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Archiv-Artikel

Ich, das ist ein Speiserest

GULAG Dieser Autor nimmt den Leser mit in die Überwältigung seiner Person, ins Anschreiben gegen seine Vernichtung: Liao Yiwus erschütterndes Gefängnisbuch „Für ein Lied und hundert Lieder“

„Ich bin das Tonbandgerät unserer Gesellschaft. Meine Aufgabe ist es, die Unterlagen bereitzustellen für eine ausgleichende Gerechtigkeit“

LIAO YIWU

VON SUSANNE MESSMER

Dieses Buch ist ein Horror. Mit jäher Gewalt schleppt es den Leser durch die Hölle, in den chinesischen Gulag, und lässt ihn nicht mehr los. Bilder brennen sich ein. Das einer Vergewaltigung zum Beispiel, als die Ranghöchsten in einer Gefängniszelle kollektiv die Niedrigsten zwingen, sie oral zu befriedigen und anschließend das Sperma zu schlucken. Oder das der „Speisekarte“ – 45 Foltermethoden der Gefangenen untereinander. Eines davon heißt „Rachengeschnetzeltes“ und sieht vor, dem zu Bestrafenden den Adamsapfel einzuschlagen. Beim „Verliebten Hahnrei“ wird ein Pfefferkorn in die Harnröhre eingeführt und die Eichel mit Garn zugebunden. Dies sind nur zwei der harmlosen „Gerichte“

Schon diese Schilderung genügt als Erklärung, warum es Liao Yiwu in China so schwer hatte – und warum er in Deutschland ins Exil gegangen ist, damit hier sein dicht bedrucktes, ziegeldickes Buch „Für ein Lied und hundert Lieder“ erscheinen konnte, wenigstens hier, ohne dass er noch einmal ins Gefängnis muss. Denn die chinesische Regierung hatte ihm die Publikation dieses Buches auf der ganzen Welt untersagt.

Geboren 1958, ist Liao Yiwu von der großen Hungersnot geprägt, die Millionen Chinesen das Leben kostete. In den achtziger Jahren avancierte er zum Provinzdichter mit kleinem Salär, der über Schönes schrieb und sich kaum für Politik interessierte. Die Demokratiebewegung, die sich 1989 auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens formierte, veränderte alles. Wenige Tage vor ihrer Niederschlagung schrieb Liao Yiwu das Gedicht „Massaker“, das diese Zeile enthält: „Schießt! Schießt! Auf die Alten, die Kinder, schießt auf die Frauen!“

Das Gedicht fand weite Verbreitung in China, Liao Yiwu kam vier Jahre ins Gefängnis. Dieser Zeit hat er es nach eigenen Aussagen zu verdanken, dass er zu notieren begann, was „Chinas Bodensatz der Gesellschaft“ zu sagen hat – das daraus entstandene Buch mit Gesprächsprotokollen „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ sorgte 2008 in Deutschland für mehr Furore als die meisten Bücher aus China seit langer Zeit. Erst zwei Jahre danach konnte Liao Yiwu in Deutschland auf Lesereise gehen, nach 14 gescheiterten Ausreiseversuchen.

Wie kann es gelingen, Würde zu bewahren?

„Für ein Lied und hundert Lieder“ ist ein Buch über die Gefängnisjahre 1990 bis 1994, die der Autor beteuert, weder ad acta legen zu können noch zu wollen. Dreimal musste Liao Yiwu dieses Buch schreiben, weil seine Manuskripte wieder und wieder konfisziert wurden. Ob das Buch je offiziell in China wird erscheinen können, steht ebenso in den Sternen wie die Rückkehr Liao Yiwus in seine Heimat, dem einzigen Ort, wo er neuen Stoff finden könnte.

Liao Yiwus Buch ist nicht das erste über den Gulag – und man muss sich den chinesischen wohl dem der Sowjetunion sehr verwandt vorstellen –, es ist aber das schrecklichste. Verzweifelt, wild, unverschämt schamlos, aber nie voyeuristisch oder pornografisch kreist es um eine einzige Frage: Wie kann es gelingen, unter solchen Bedingungen Würde zu bewahren? Anders gesagt: Was bleibt vom Menschen, wenn er so von Gewalt durchdrungen ist, dass er alles verrät und verkauft, an das er einmal geglaubt haben mag?

Das Buch antwortet mit einem existenziellen Aufschrei, für das man manche Weitschweifigkeit und Passagen akzeptiert, die sich in ihrer Wucht vergaloppieren. Liao Yiwu rekonstruiert meist mit großer Sorgfalt das wilde und verzweifelte Durcheinander der Erinnerung, den Brei traumatischer Erlebnisse, der sich weder damals noch jetzt sortieren lässt. Anusinspektion mit Essstäbchen. Erzwungene Schädelrasuren mit stumpfen Scheren. Verhöre, Schlafentzug. Mit 30 Dieben und Mördern, davon einige bereits zum Tod verurteilt, auf 20 Quadratmetern. 23 Tage Einzelhaft, mit auf dem Rücken gefesselten Armen. „Ich, das war ein Speiserest.“

Es geht nicht darum, das Geschehen zu erklären oder anderweitig zu rationalisieren, wie dies Alexander Solschenizyn in seinem „Archipel Gulag“ versucht hat – oder auch der chinesische Autor und Vertreter der sogenannten Laogai-Literatur Harry Wu in seinem hierzulande wenig bekannten Gefängnisbuch „Nur der Wind ist frei“. Liao Yiwu will ebenfalls keine minimalistische, lakonische Sprache, in der das Entsetzliche verdichtet wird, wie dies Warlam Schalamow in seinen „Erzählungen aus Kolyma“ anstrebte.

Liao Yiwu nimmt den Leser mit in die Überwältigung seiner Person, ins Anschreiben gegen die Vernichtung – aber er ist insofern nicht nur Dokumentarist und Chronist, als dass er ihn auch immer wieder an seinem Rückzug in die Jetzt-Zeit der Aufzeichnungen teilhaben lässt, an Reflexion, Ratlosigkeit, Hader und Trauer. So gibt er auch dem Leser immer wieder Luft, das beschriebene Grauen zu überdenken.

Das Schlimmste und zugleich Beste an Liao Yiwus Buch aber ist auch das: Die Bücher, die wir bislang über den Gulag kannten, sind zu einer Zeit entstanden, als ein Ende des Systems, das diese hervorgebracht hat, nicht in Sicht war. Die Autoren, die über ihn geschrieben haben, hatten einen Feind mit einer hirnverbrannten, aber funktionierenden Ideologie. Das System aber, gegen das Liao Yiwu anschreibt, ist zwar noch immer erschreckend real, wirkt aber hoffnungslos überholt.

Die Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens war der Anfang vom Ende der kommunistischen Parteiherrschaft – außer der in China, Nordkorea und Kuba. Mit ihrer Niederschlagung hat die chinesische Regierung ihre Legitimation verloren. Und trotzdem hat sich China immer weiter geöffnet, die chinesischen Metropolen unterscheiden sich kaum mehr von westlichen. Immer mehr Menschen, die das wollen, leben einigermaßen bequem und sorgenfrei, informieren sich übers Internet über den Rest der Welt, scheren sich nicht um große Politik und erschrecken nur dann und wann ein wenig, wenn wieder einmal ein chinesischer Künstler hinter Gittern landet.

Dass es in China noch immer Gulags gibt, ist überhaupt nicht mehr unterfüttert von Ideologie, es scheint grässlich willkürlich und komplett überflüssig. Diese Sinnlosigkeit spiegelt sich in „Für ein Lied und hundert Lieder“ im Umgang der Wachmänner mit den Gefangenen, der hauptsächlich aus dem Einsatz von Elektroknüppeln besteht, es spiegelt sich in den Beziehungen der Gefangenen untereinander.

So absurd sind die Demütigungen, sind Qual, Schmerz und Schadenfreude, die sie einander antun, dass man an die Klone mit den verzerrten Fratzen der chinesischen Maler Fang Lijun und Yue Minjun denken muss. Ähnlich wie diese grusligen Gesichter kreisen Liao Yiwus schlimmste Gewaltbeschreibungen um eine schwer zu fassende Spannung zwischen Gesellschaft und Subjekt, die es so vielleicht nur in China geben mag.

Eine Odyssee durch die chinesischen Gefängnisse

In einem Interview hat Liao Yiwu von einer Passage in Elie Wiesels KZ-Buch „Nacht“ erzählt, als Juden angesichts der Brennöfen gemeinsam ein Lied anstimmten. „Bei den Chinesen gibt es keinen Zusammenhalt, die verenden jeder für sich“, sagte er. Konformismus zerstört Selbstwertgefühl. Ohne Selbstwertgefühl ist kein Gemeinschaftssinn zu haben.

Und doch gibt Liao Yiwu nicht auf. Immer wieder freundet er sich auf seiner Odyssee durch die zahllosen Zellen im Gerichtsgefängnis, im Untersuchungsgefängnis und im Umerziehungslager mit einzelnen Figuren an, die Zuschauer, Täter und Opfer zugleich sind. Schrecklich sind die Szenen, wenn Todeskandidaten wie der Schlachter Liu, der eines Tages aus heiterem Himmel und wie aus Versehen einem Mann ein Obstmesser in den Leib gesteckt hat, ohne Vorwarnung zur Hinrichtung abgeholt werden. Noch schlimmer ist es, als der Autor eine Freundschaft zu einem Mitgefangenen entwickelt, der einmal Räuber war. Liao Yiwu erzählt Wang Er von seiner Mutter, Wang Er erzählt Liao Yiwu im Gegenzug von Frau und Tochter – und wie er es wegen der beiden fast einmal geschafft habe, vom Rauben loszukommen. Am Ende geraten sie doch aneinander, Liao Yiwu beschimpft Wang Er und Wang Er droht, Liao Yiwu zu vergewaltigen. Doch „plötzlich ließ er mich los und wandte sich einem Neuen zu. […] Der schrie wie am Spieß, das Blut floss ihm die Schenkel und die Kniekehlen herunter. […] Seit über einem Jahr hatten mich die Briefe von zu Hause gerührt, aber ich hatte nicht eine Träne vergossen. Doch bei diesem Anblick fühlte ich mich erschöpft von einer unerträgliche Last.“

Liao Yiwu sagt zu seinem Buch: „Ich bin das Tonbandgerät unserer Gesellschaft. Meine Aufgabe ist es, die Unterlagen bereitzustellen für eine ausgleichende Gerechtigkeit.“ Das trifft es einerseits genau. Andererseits ist es sehr tiefgestapelt, denn es unterschlägt die mitreißende, elementare Kraft von Liao Yiwus Sprache, sein Empathievermögen und die Schonungslosigkeit im Umgang mit der eigenen Person.

■ Liao Yiwu: „Für ein Lied und hundert Lieder“. Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 592 Seiten, 24,95 Euro