: Das Archiv als schöne Kunst
Das Internet. Unendliche Datenmengen. Alles, was sich digitalisieren lässt, findet hier seinen Platz, wird verfügbar gemacht, von Neugierigen und Sammlern heruntergeladen oder schimmelt auf irgendeinem Server vor sich hin. Selbstverständlich auch Musik. Sehr viel Musik sogar.
Dass man im Grunde jedes Geräusch, das jemals von Menschenhand aufgezeichnet wurde, heute in irgendeinem Archiv im Internet aufstöbern kann, ist eine Entwicklung, die viele Musikliebhaber begeistert. Die Musikindustrie begeistert das weniger, weil Gratisdownloads wenig Geld einbringen, das aber nur am Rande.
Eine andere Frage ist, was die Archive mit der Musik machen. Pessimisten fürchten, dass sie zum Datenmüll wird, der Festplatten verstopft und beständig weiter anwächst, während das Hören darüber verkümmert. Das muss man nicht ganz so schwarz sehen, doch hat es neue Musik heute schwerer, sich gegen alte Lagerbestände zu behaupten.
Genau genommen wird mittlerweile alles, was entsteht, sofort zu Archivmaterial. Die Perspektive der vollständigen Verfügbarkeit, selbst eine Art Audio-Allmachtsfantasie, verstärkt so den Warencharakter der Musik. Einzelne Stücke drohen im Dateneinerlei beliebig zu werden, wenn einem die Fähigkeit abhanden kommt, Wichtiges und Besonderes von Überflüssigem zu unterscheiden.
Der Hamburger Musiker Felix Kubin sieht darin keinen Grund zum Verzweifeln, sondern neue Chancen. Seine erste Antwort auf die Frage „Welche neuen Möglichkeiten hat die Musik in der Zeit der offenen Archive?“ trägt den nüchternen Titel „Historical Recordings“ und ist bei seinem eigenen Label Gagarin Records erschienen. Handverlesene seltene Aufnahmen bekommen die Hörer hier in Vinyl geritzt – was das Digitalisieren zumindest erschwert –, und die auf dieser mit viel Liebe gestalteten Schallplatte versammelten Dokumente sind in der Tat erstaunlich. So hört man betrunkene Walfänger aus Norwegen bei einem Walfangfestspiel, Planktonrauschen oder den Komponisten Oskar Sala, der im Jahr 1935 dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die Vorzüge seines Volkstrautoniums demonstrierte.
Ob die Aufnahmen authentisch sind oder nicht, spielt dabei keine große Rolle. Sie können sich genauso gut als reine Kunst behaupten, als inszenierte Aneignung des Archivs, mit der eine neue Geschichte erzählt wird, die den Klängen ihre Besonderheit zurückgibt. Man muss eben nur wissen, wie man das Hören überlistet. TIM CASPAR BOEHME
■ „Historische Aufnahmen – Historical Recordings Vol. 1“ (Gagarin Records)