: Im Internet-Paradies
ZUKUNFTSMUSIK In Europas digitaler Vorzeigenation Estland sind große Teile der Fläche mit kostenlosem WLAN abgedeckt. Doch die Zahlen der Spots sind rückläufig: die Esten bevorzugen jetzt Internetverbindungen über Funk
VON HOLGER KLEMM
Wer sich von Tallinn mit der Bahn auf den Weg macht in die Universitätsstadt Tartu, kann die folgenden zwei Stunden im Internet für die nächste Vorlesung recherchieren – kostenlos per Wifi. Bei den Fernbussen ist es bereits seit Jahren Standard. Kein Supermarkt, keine Tankstelle, die kein offenes Netz anbieten würden.
Von Estland kann man mit gutem Recht als der führenden europäischen IT-Gesellschaft sprechen. In den 90er-Jahren musste ein neues Verkehrszeichen erfunden werden, eines, das allen Bürgern den Weg zum Internet weist. Noch in den kleinsten Orten finden sich entweder eine Tafel mit einem großen Auge – als Blick in die weite Welt – oder das rechteckige blaue Zeichen mit dem @-Symbol. Mit kostenlos nutzbaren Computern mit Netzanschluss in Bibliotheken, Ämtern und Schulen begann es. Das Interesse an der Information über das eigene Land und den Rest der Welt ist ungebrochen und generationsunabhängig.
Das „Recht auf Internet“ ist zur stehenden Rede geworden, nicht juristisch, aber faktisch. Heute finden sich in Tallinn und Tartu, aber auch in vielen Dörfern eine Vielzahl freier kabelloser Netze. An vielen Cafés, Hotels, Bahn- und Flughäfen sowie Tankstellen weist das Wifi-Zeichen auf den Netzempfang hin. Und überall sieht man junge und auch ältere Menschen bei Caffè Latte ihre Mails bearbeiten, Nachrichten lesen und Korrespondenz führen. Bisher ausgewiesen sind offiziell rund 1.000 Wifi-Gebiete, davon allein knapp 350 in Tallinn. Doch die Zahlen sind rückläufig. Es ist wieder der Stand von vor acht Jahren erreicht. Was ist geschehen?
Das Vertrauen in die neue Technik führte zum IT-Einzug quer durch alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereiche. Beim Online-Banking öffnet sich mit der Seite des Geldinstitutes nicht nur die Übersicht über Ein- und Ausgaben, sondern auch die fest verknüpften Unterseiten zum Finanzamt, der Kfz-Versicherung, Krankenversicherung und sonstigen Meldestellen. Ein Großteil der Bürger füllt die Steuererklärung online aus. Nur fünf bis zehn Minuten dauert die Prozedur, sind doch alle Daten bereits im gleichen System gespeichert. Zentral für diese Vernetzung ist ein seit Jahren bestehender Identitäts-Code für jeden Bürger – in Deutschland soll im kommenden Jahr mit der Einführung eines ID-Nummernsystems begonnen werden.
Papierlose Minister
Die estnische Regierung arbeitet seit dem Sommer 2000 bei ihren Sitzungen komplett papierlos. Fünf Jahre ist es her, dass Linnar Viik, der frühere IT-Berater des Ministerpräsidenten, das Kabinett von den Vorteilen der Umstellung überzeugte. In wenigen gemeinsamen Sitzungen besprachen Ministerienvertreter ihre Erwartungen an ein solches System und gaben die gesammelten Anforderungen weiter zur Entwicklung. In kurzer Zeit konnte so ein passgenaues Programm entwickelt und eingeführt werden. „Nach einer 20-minütigen Einführung“, schwärmte Linnar Viik, „bedienten die Minister das Programm komplett eigenständig.“ Und die Kosten? Die amortisierten sich innerhalb von 14 Monaten allein durch die eingesparten Papierkosten.
Während in Deutschland noch diskutiert wird, ob elektronische Stimmzettel wirklich sicher sind vor Manipulationen von außen, praktizieren die Esten seit bald zehn Jahren die Stimmabgabe per Internet – und seit der Parlamentswahl 2011 auch per SMS. Wieder eine Weltneuheit. Zwar ist die Online-Beteiligung relativ gering, doch liegt das eher daran, dass nicht jeder Este ein ID-Kartenlesegerät zu Hause hat, um die eigene Person zur Wahl per Internet zu authentifizieren. Ob ein solches System notwenig ist oder gar demokratiefördernd und fälschungssicher, sei dahingestellt. Aber dass Estland auch hier Avantgarde spielt, ist bezeichnend.
Die Kleinheit des Landes und die überschaubare Zahl seiner Bürger sind zwei wesentliche Voraussetzungen für den flächendeckenden Einsatz von E-Government-Lösungen. Bei rechnerisch noch 1,3 Millionen Einwohnern (faktisch ist unklar, ob es überhaupt noch eine Million sind) wäre es unmöglich, in jeder kleinen Stadt eine komplette Verwaltungsbehörde einzurichten. Durch die Online-Verwaltung, die nicht nur bereitgestellt, sondern auch stark genutzt wird, entfallen die teils langen Behördengänge. Und damit auch wirklich jeder Este das komplette Angebot nutzen kann, wurde die Parole ausgegeben, dass auch noch das letzte abgelegene Haus und die hinterste Hütte im Wald wireless ins Internet gehen kann.
Zentrale für Cyber War
Das Marktforschungsinstitut Infratest bestätigt in seinen weltweiten Untersuchungen einen engen Zusammenhang zwischen dem Pro-Kopf-Einkommen des Landes und seinem Entwicklungsstand beim E-Government – große Ausnahme: Estland. Trotz der niedrigen Löhne schaffte es das Land auf Platz 19 der globalen Spitzenreiter. Die IT-Beraterfirma Capgemini ermittelte im Auftrag der Europäischen Kommission die Fortschritte der Online-Verfügbarkeit von Dienstleistungen des öffentlichen Sektors – und sah Estland EU-weit an dritter Stelle. Und in punkto Breitband-Internet bei Schulcomputern hielt Estland schon im letzten Jahrzehnt die Top-Position in der EU. IT-Studenten werden in der Regel bereits während ihres Studiums von internationalen Firmen abgeworben. Skype wurde von estnischen Technikern entwickelt, die Medientauschbörse der 90er, Kazaa, ebenfalls. Und nicht umsonst verlegte die Nato 2008 ihr Hauptquartier gegen Cyber War – das Cooperation Cyber Defence Centre of Excellence – nach Tallinn. Playtech, das weltweit führende Unternehmen für Online-Games, speziell Glücksspiel, eröffnete die größte Geschäftsstelle in der Nähe von Tartu, später eine weitere in Tallinn.
Mit den Programmierkenntnissen steigt allerdings auch die Internetkriminalität. Immer wieder führen Spuren von Betrugsfällen beim Online-Banking, dem sogenannte Phishing (Passwort-Fischen), die Kriminalpolizei ins Baltikum. Auch Esten selber sind Opfer der Betrüger – das ist ein Grund für den Rückgang der offenen WLAN-Netze im Land. Gerade weil die Esten faktisch alles per Internet machen, Online-Banking inklusive, ist ihnen, die sonst kaum einen Gedanken an Datenschutz verschwenden, die Offenheit der Netze dann doch zu heikel. Die meisten privaten Netze haben darum inzwischen einen Passwortschutz eingebaut.
Ein weiterer Grund für den Rückgang des offenen WLANs ist die technische Entwicklung. Durch den Boom an Smartphones und Tablets mit einer viel stabileren Netzverbindung, deren Flatrate für monatlich fünf Euro zu haben ist, steigen die meisten Esten um und nutzen die neueste Mobilfunk-Technik. Freie WLAN-Netze sind darum eher Schnee von gestern.