STAMMKNEIPEN BIETEN NOCH GEBORGENHEIT IN DER ENTFREMDUNG
: Gefährdete Dritte Orte

VON HELMUT HÖGE

Der „Erfinder“ des Begriffs „Dritte Orte“, Ray Oldenburg, verglich in seiner Kritik an den heutigen Einkaufszentren und Schnellrestaurants diese mit den „guten alten Plätzen“ – dem Tante-Emma-Laden und der Eck- oder Stammkneipe. Diese Orte sind neben dem Arbeitsplatz und der Wohnbox lebensnotwendig. Bei der Fragmentierung der Arbeit, der Zerschlagung der Betriebskollegiate und dem anonymen Wohnen von Kleinfamilien stelle sich dort so etwas wie eine Ganzheitlichkeit her.

Man ahnte es bereits, als eine Arbeitslosenstudie der Nürnberger Agentur für Arbeit ergab, dass Arbeitslose, die oft und gerne in Kneipen sitzen, schneller Jobs finden als welche, die zu Hause bleiben und schon morgens vorm Fernseher hocken. Selbst die zieht es vermehrt in Kneipen, wo man sich Fernsehsendungen in Gemeinschaft anguckt. Eine „Erfindung“, die aus den USA kommt. Da wir alles aus dieser real existierenden Gesellschaft übernehmen, in der die Entfremdung am weitesten fortgeschritten ist, kommen auch die mehr oder weniger hilflosen Versuche ihrer „Heilung“ über uns – und zwar im Original: Jogging, statt Dauerlauf, Public Screening statt Gemeinschaftsfernsehen.

Wie fragil solche Dritten Orte aber sind, erfuhr ich vor einiger Zeit im altehrwürdigen Yorkschlösschen in Kreuzberg 61. Dort sprachen an der Theke zwei Mitarbeiter des Reisemagazins Merian mit dem Wirt darüber, dass sie ins nächste „Up-Date“ ihres Berlin-Hefts gerne seine „noch typisch westberlinerische“ Kneipe mit hineinnehmen würden. Diese bewirbt sich selbst im Internet mit den Worten: „Unsere Toiletten genügen den behördlichen Vorschriften, sind aber eng … Der Service ist artgerecht … Getanzt wird, wo man gerade steht oder auch auf den Tischen.“ Der Wirt sagte: „Ich gebe Ihnen gerne einen aus, aber lassen Sie mich da raus.“ „Warum?“ fragten die beiden erstaunt. „Weil, wenn ich da drin stehe, kommen die Touristen. Und dann bleiben meine Stammgäste weg. Wenn die aber weg bleiben, die die Atmosphäre ausmachen, dann bleiben über kurz oder lang auch die Touristen weg. Und dann steh ich dumm da.“ So oder jedenfalls so ähnlich wimmelte der Wirt die Offerte ab, von der Tourismusoffensive Berlins zu profitieren. Bei der Prenzlauer Berger Boheme-Kneipe Rumbalotte war es der Coach des Jobcenters, der den Wirten dringend riet, sich mehr auf junge Touristen mit Geld als auf arme Dichter und Musiker zu stützen. Vielleicht dachte er an Cocktails, Becks-Bier und Latte Macchiato. Oder an überdimensionale Nacktfotos von Helmut Newton an den Wänden. Oder an Public Screening. Die beiden Wirte hatten zwar nichts dergleichen im Sinn. Aber sie taten doch etwas: Andauernd findet nun ein Literaturfestival nach dem anderen in der Rumbalotte statt. Man kommt gar nicht mehr dazu, selbst was zu schreiben.