: Armut mit Bananencreme
Der bisquitartige Gebäck mit Banane- oder Vanillecremefüllung wurde 1930 von dem Bäcker Jimmy Dewar erfunden und gilt in den USA mittlerweile als Inbegriff von Junk Food. Twinkie besteht unter anderem aus Mehl, Zucker, Mais und Soja in verschiedensten Konsistenzen. Hinzu kommen Baumwollöl, Aromen und verschiedene Farben für den goldgelben Ton. Rund 500 Millionen Kekse kaufen die Amerikaner jedes Jahr und essen sie pur, frittiert oder bauen sich große Hochzeitstorten aus dem Gebäck. Das Produkt ist auch Gegenstand moderner Mythen. So sollen sich die Kekse jahrelang halten, wobei die Füllung sich in Alkohol verwandelt. step
AUS WASHINGTON ADRIENNE WOLTERSDORF
Dass es so schwer sein würde, hatte der Gouverneur nicht geahnt. Ted Kulongoski, demokratischer Regierungschef des US-amerikanischen Westküstenstaates Oregon, hatte sich von religiösen Gruppen und Hilfsorganisationen kürzlich dazu bringen lassen, es einfach mal zu versuchen: eine Woche lang von den Lebensmittel-Gutscheinen zu leben, die die Bundesregierung den Armen des Landes zugesteht. Kulongoski rannte kreuz und quer verwirrt durch den Supermarkt, begleitet von einem Dutzend Kameras und einer Sozialarbeiterin, die ihn beim Shopping beriet. Die Dame, Mutter dreier Kinder, hatte vor kurzem selbst von Lebensmittelmarken leben müssen, weil ihr Mann seinen Baustellen-Job wegen eines geplatzten Auftrages verloren hatte. Die Bio-Bananen und das Bier holte sie dem Politiker schnell wieder aus dem Einkaufswagen. Erdnussbutter und Kaffee? Entweder oder, sagte sie ihm. Mehrkornbrot? Zu teuer! Twinkie-Kekse, Kartoffelchips und Cola? Passt genau, macht drei Dollar.
Was der ansonsten eher unbekannte Politiker Kulongoski innerhalb von einer Woche ahnungslosen US-BürgerInnen medienwirksam demonstrierte, wissen Ernährungsforscher und die Armen des Landes längst: Wer von 3 Dollar, rund 2,25 Euro am Tag, dem gesetzlich festgelegten Wert der sogenannten „food stamps“, leben muss, der ernährt sich schlecht – und wird dick. Zwar war der Bauchumfang auch in früheren Zeiten ein Indikator für die soziale Schicht, in der ein Mensch lebt. Allerdings litten in den zigtausenden Jahren Menschheitsgeschichte Arme eher unter Kalorienmangel – und waren rappeldürr. In den USA des Jahres 2007 sind es hingegen vor allem diejenigen mit den geringsten Einkommen, die die meisten Pfunde auf die Waage bringen.
Warum ist das so? Wer mit wenig Dollar in der Geldbörse shoppen geht, macht einen Bogen um die Regale, die direkt an den Supermarktwänden stehen. Hier werden standardmäßig Frischprodukte, Milch, Fleisch und Gemüse angeboten. Wer sparen muss, findet seine Lebensmittel eher im Zentrum des Supermarktes. Dort liegen die haltbaren Billigprodukte.
Wer mit wenig Geld einkauft, muss nämlich versuchen, die maximale Menge an Kalorien für die geringste Summe zu erstehen. Im Durchschnitt lassen sich mit 1 Dollar zwischen New York und San Francisco rund 1.200 Kalorien durch Kekse oder Chips erwerben. Aber zum Beispiel nur 250 Kalorien aus Karotten. Oder 875 Kalorien in Limonade, aber nur 170 Kalorien in Orangensaft.
Kein Geld für Gemüse
Kein Wunder also, dass die rund 35 Millionen US-Amerikaner, die in prekären Verhältnissen leben – ein Drittel davon sind übrigens Kinder –, selten frisches Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch essen. Experten rechnen sogar mit einer Verschlimmerung des Trends, da der US-Jobmarkt an Dynamik verliert und die Reallöhne der Geringverdienenden durch steigende Lebenshaltungskosten sinken.
Was das alles mit den gerade stattfindenden Kongressberatungen zur Neuauflage des US-Subventionsgesetzes für die Landwirtschaft zu tun hat? Oder der Kongress mit Twinkie, dem Lieblingskeks der Nation? Keine Ahnung, sagen die meisten US-BürgerInnen. Denn das, was da einige Argarlobbyisten und Abgeordnete aus dem Mittleren Westen alle fünf Jahre hinter verschlossenen Türen aushandeln, hat bislang kaum jemanden interessiert. Dabei hat es weitläufigere Konsequenzen, als sich der Durchschnittsbürger so vorstellt. Twinkie ist ein lebensmittelähnliches Produkt, hergestellt von der Interstate Bakeries Corporation. Der Keks ist Ergebnis einer Reihe von hochindustrialisierten Fertigungsprozessen. Er enthält nicht weniger als 39 verschiedene Inhaltsstoffe. Diese, schick verpackt und mit dröhnendem Marketing beworben, ergeben die US-Ikone der Keksindustrie.
Kein Wunder, dass just der Keks den US-Journalisten und Buchautor Michaell Pollan zu seinem neuesten Buch inspirierte: „The Omivore’s Dilemma“ (zu Deutsch ungefähr: „Das Dilemma der Allesfresser“). Pollan fragt sich darin, wie um Himmels willen es kommt, dass diese synthetischen Pseudokekse nur ein Drittel so viel kosten wie ein Bündel einfacher Möhren? Die Antwort, so Pollan, sei im US-Subventionsgesetz für die Agrarindustrie zu finden.
Gegenwärtig wird dieses mammutartige Gesetzespaket neu verhandelt, so wie alle fünf Jahre. Es bestimmt die Regeln des US-amerikanischen Lebensmittelmarktes, prägt darüber hinaus auch zu einem Teil die Spielregeln des globalen Marktes. In unverständlichem Fachjargon wird darin festgelegt, welche Feldfrüchte subventioniert werden und welche nicht. Der noch gültige „US-Farm Bill“, so Pollan, hilft dem Keks jedenfalls weitaus mehr als den Möhren.
Twinkie besteht hauptsächlich aus Kohlehydraten und Fetten, die die Industrie aus Mais, Sojabohnen und Weizen gewonnen hat – drei der fünf grundlegenden Feldfrüchte, für die US-Farmer seit Jahrzehnten kräftige Subventionen kassieren. Die beiden anderen sind Reis und Baumwolle. Die schlichte Philosophie der US-Subventionen ist, dass Farmer umso höher subventioniert werden, je mehr sie produzieren.
Das Resultat: ein Lebensmittelmarkt, der in Zuckerstoffen (aus Mais) und in Fetten (aus Sojabohnen) erstickt. Dazu billige Rekord-Kuh-Milch und Mastfleisch, beides ebenfalls mit Futter aus Mais und Soja erzeugt. Im Gegensatz dazu erhält ein Gemüsebauer keinen Cent Unterstützung. Was das für den Lebensmittelmarkt heißt, zeigt der Blick auf die Preisschilder im Supermarkt: Dort sind in den letzten 20 Jahren die Gemüsepreise real um 40 Prozent gestiegen. Limonade und Softdrinks, die aus wenig anderem als aus Maisstärke gewonnenem Sirup und Wasser bestehen, kosten hingegen rund 20 Prozent weniger.
Fett für den Welthandel
Zurzeit berät der US-Kongress die aktuelle „US Farm Bill“. Das ist ein Fünfjahresplan, der unter anderem die Agrarsubventionen, Umweltschutz- und Energiefragen, aber auch die Zuteilung von Essensmarken für Arme regelt. Der bisherige Plan läuft Ende September 2007 aus. Das US-Farmergesetz umfasst rund 90 Programme, die über 16 verschiedene US-Ministerien verwalten. Es stammt im Wesentlichen aus den 1930er-Jahren. Damals ackerten noch rund 20 Prozent der US-Bevölkerung in der Landwirtschaft, heute liegt der Anteil der Farmer bei etwas über 1 Prozent. Knapp 500.000 US-Landwirte profitieren von dem Gesetz, allerdings streicht nur eine kleine Gruppe das Gros der Summe ein. Im Jahr 2005 lag das jährliche Finanzvolumen des Farmergesetzes bei rund 75 Milliarden Euro.Umweltgruppen und Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit haben seit Februar umfangreiche Reformvorschläge und Forderungen nach Subventionsstopps eingereicht. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass die Bush-Administration sich mit ihrem Wunsch nach der Fortsetzung des alten Modells durchsetzen wird. Denn den Änderungsanträgen, die am Freitag debattiert wurden, fehlt die notwendige Unterstützung. AWO
Die ungesündesten Kalorienbomben werden also vom US-Kongress kräftig unterstützt. So sorgt also die gleiche Regierung, die mit Millionen Dollar teuren Aufklärungsprogrammen gegen Fettleibigkeit durchs Land zieht, im gleichen Atemzug für das chronische Übergewicht ihres Prekariats.
Die fetten Subventionen erlauben es US-amerikanischen Farmern zudem, ihre Ernte auf dem Weltmarkt zu Preisen unter den Produktionskosten anzubieten. Unweigerlich müssen sich Bauern in Nigeria oder in Mexiko an den Baumwoll- und Maispreisen in den USA orientieren. Ihre Alternativen lauten: mitbieten oder das Land aufgeben, weil sie mit der nordamerikanischen Konkurrenz nicht Schritt halten können. Die mexikanische Regierung schätzt, dass die im Rahmen der Nafta seit Mitte der 90er-Jahre Richtung Mexiko fließenden Mengen an US-Billigmais schon rund 2 Millionen mexikanischen Bauern die Existenzgrundlage geraubt haben.
Seit kurzem droht ein neuer Faktor den weltweiten Handel zu destabilisieren: Der ebenfalls stark subventionierte Ethanol-Boom in den USA hat zu einer neuen Knappheit von Mais geführt. Das gelbe Korn wandert nun viel seltener als zuvor in den Süden und neuerdings immer mehr in die Ethanol-Fabriken, die den Horizont des Mittleren Westens zieren. Zu Anfang des Jahres stiegen daher in Mexiko die Tortilla-Preise dramatisch an – was zu noch mehr Armut in Mexiko führt. Als Folge dieser Entwicklung wandern mehr Menschen aus und suchen ihr Heil als Illegale und Landarbeiter in den USA.
Dort wird noch immer die Illusion gehegt, dass der Markt die treibende und ordnende Kraft der Wirtschaft ist. Tatsächlich sorgt gerade das Farmer-Gesetz dafür, dass rund die Hälfte des privaten Ackerlandes in den USA nach dem Willen des Gesetzgebers bebaut wird. Es ist daher kaum zu erklären, warum der „Farm Bill“ nicht zu den umkämpftesten Gesetzen der USA zählt. Doch im Gegenteil: Eine Handvoll Abgeordneter aus den Farmer-Staaten des Mittleren Westens besiegelt die Schicksale Millionen armer Amerikaner, Ethanolproduzenten, Gemüsebauern und Farmern in den Schwellenländern.
„Es gibt Anzeichen, dass es diesmal anders sein wird“, ist sich Michael Pollan sicher. Die US-Gesundheitspolitik habe endlich den Zusammenhang zwischen Maispreis, Twinkies und Bauchumfang erkannt. Die rasant expandierende Öko-Öffentlichkeit der USA sei aufgewacht, und Dritte-Welt-NGOs wie Oxfam wollen Druck ausüben. Pollan schlägt vor, das Gesetz für alle erkenntlich umzubenennen. Denn es handele sich nicht länger um ein Farmergesetz, sondern um das US-Lebensmittelgesetz.