: Zeit des Erwachens
BILDJOURNALISMUS An der Kamera war sie eine Zeugin des Coming of Age der Bundesrepublik. Das Berliner Museum für Fotografie zeigt eine Retrospektive zum Werk der Fotografin Abisag Tüllmann
VON RALF HANSELLE
Endlich war er bei sich selbst angekommen. Bernhard Minetti spielte Bernhard Minetti. Thomas Bernhard hatte ihm sein gealtertes Leben auf den längst knochigen Leib geschrieben – in „Minetti“, dem Drama eines störrischen Schauspielers, der sich ein letztes Mal für eine große Rolle bewirbt. 1976 wurde „Minetti“ am Württembergischen Staatstheater Stuttgart uraufgeführt. Es sollte eine kleine Sensation werden. Dokumentiert wurde das Stück über den Mimen, der sich selber mimte, von der damals 40-jährigen Fotografin Abisag Tüllmann. Ihre Aufnahmen von dem ungewöhnlichen Lebensstück haben Bernhards große Minetti-Hommage auch visuell unsterblich gemacht.
In gewisser Weise war Abisag Tüllmann eine Spezialistin für Selbstfindungsprozesse wie diesen – und dass nicht nur am Theater, sondern ebenso auf den oft viel zu dünnen Brettern des Lebens. Mit ihren Aufnahmen für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Zeit oder Publik zählt die 1935 im westfälischen Hagen geborene Tüllmann zu den großen Chronistinnen des bundesrepublikanischen „theatrum mundi“. Fast vierzig Jahre lang hat diese verschüchtert und nahezu scheu wirkende Frau mit ihrer Kleinbildkamera die deutsche Nachkriegsgesellschaft begleitet. Eine Gesellschaft, die zwischen Protest und Verkrampfung nach so etwas wie Identität und Alltag suchte.
Neben Michael Ruetz oder Barbara Klemm wurde sie zu einer wichtigen Zeugin eines nationalen Coming of Age. Im letzten Jahr wäre die 1996 verstorbene Fotografin 75 Jahre alt geworden. In einer Übernahme einer Ausstellung des Historischen Museums ihrer Wahlheimat Frankfurt ehrt sie das Berliner Museum für Fotografie daher jetzt mit einer umfangreichen Retrospektive: „Abisag Tüllmann. Bildreportagen und Theaterfotografie“. Aus einem Nachlass von mehr als 600.000 Negativen sowie 70.000 Vintages hat Kuratorin Martha Caspers in langwieriger Kleinarbeit rund 385 repräsentative Schwarz-Weiß-Prints herausgesucht. Aufnahmen, die unterteilt in sechs thematische Blöcke erstmals einen detaillierten Gesamtüberblick über Tüllmanns fotografisches Schaffen geben.
Sie kam aus der Generation der Skeptiker. Aufgewachsen als Tochter einer Mutter mit jüdischen Vorfahren, musste Abisag Tüllmann die Folgen des Nazi-Terrors früh im eigenen Familienkreis erleben. Der Vater, 1943 zu Zwangsarbeit verurteilt, starb zwei Jahre später ausgemergelt auf der Flucht. Es war ein Trauma, das prägen sollte. Tüllmanns schnell erwachtes Interesse für die Randfiguren der deutschen Nachkriegsgesellschaft – für Obdachlose, Gastarbeiter und soziale Underdogs – sowie ihre Vorbehalte gegenüber den Unwirklichkeiten der modernen Massengesellschaft mochten in dieser kindlichen Erschütterung ihren Ursprung gehabt haben.
Bereits ihr erster langer Bildessay „Großstadt“, 1963 als Buch erschienen, spiegelt diese Vorbehalte wider. Es sind Bilder, getragen von einer elegischen Schwere. Hier wird nicht dem großen Gott der Stadt gehuldigt; hier wird sorgfältig eine Wirklichkeit zusammenmontiert, die sich zwischen Masse und Individuum, Aufbruch und Abriss , zwischen Grau und Dunkelgrau bewegt.
Tüllmanns eigentliches Thema aber wurden die Widerstände. Die zierliche Frau, die aufgrund ihrer stillen Noblesse oft ehrfurchtsvoll „die Fotogräfin“ genannt wurde, war mit Interesse dabei, als sich Frankfurt zu einem Epizentrum der linken Gegenbewegungen entwickelte. Unablässig fotografierte sie jetzt die Studentenproteste, dokumentierte Demonstrationen und Sit-ins, porträtierte die Protagonisten der 68er-Revolte: Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer oder Rudi Dutschke. Heute wirken sie wie Bilder aus dem Scrapbook über das „barbarisch schöne Leben“. Auch den damals noch jungen Theatermacher Claus Peymann lernt sie in diesem politisierten Umfeld kennen. Er gewinnt Tüllmann für das Schauspiel, macht aus der fragilen Fotografin, von der er noch heute liebevoll als ein „Zauberwesen“ spricht, eine der besten Theaterfotografinnen der 70er Jahre.
Doch auch die Bühne der Politik scheint Abisag Tüllmann jetzt vermehrt in den Bann zu ziehen. Mochten in den Schauspielhäusern die Hüllen fallen, im Bonner Polittheater wurde weiterhin auf große Posen und Maskeraden gesetzt. Einmal, es muss im Jahr 1976 gewesen sein, bekommt Abisag Tüllmann von der Wochenzeitung Die Zeit den Auftrag, den damaligen Schmidt-Herausforderer Helmut Kohl zu porträtieren. Während Gattin Hannelore es sich im Bildvordergrund im modernem Op-Art-Chic gemütlich gemacht hat, inszeniert sich der Pfälzer Hüne tief im Bildnebel in seiner angedeuteten Privatbibliothek. Eine Homestory aus dem Haus der Lüge. Um wie viel straighter und ehrlicher war da doch bereits jene Republik, die sich in dieser Ausstellung noch einmal aufs trefflichste fotografisch selbstbespiegeln kann.
■ Bis 18. September, „Abisag Tüllmann 1935–1996. Bildreportagen und Theaterfotografie“, Museum für Fotografie, Jebensstraße 2, Di.–So. 10–18 Uhr, Do. bis 20 Uhr