: Ein Quäntchen Freiheit mehr
Es ist eine Boomregion abseits der Zentren, in der einerseits Megastädte entstehen, in der andererseits aber auch eine Kunst gedeiht, politischer und kritischer als anderswo im Land: Video- und Performancekünstler aus dem Pearl River Delta im Süden Chinas stellt jetzt der Hamburger Kunstverein aus
VON PETRA SCHELLEN
Vielleicht beginnt so die Kolonialisierung: Indem ein deutscher Kurator, der zuvor in Neuseeland und Litauen gelebt hat, in Hongkong nach südchinesischer Kunst sucht. Vielleicht auch, wenn vier von fünf chinesischen Kunstwerken nach Westen verkauft werden; das passiert derzeit – vorauseilenden Gehorsam in Sachen Ästhetik inklusive.
Tobias Berger, Kurator der aktuellen Ausstellung „Insert 4“ im Hamburger Kunstverein, ist sich des Problems der „Überfremdung“ bewusst. Er ist keiner, der mal eben nach Asien jettet, um in drei Tagen die chinesische Kunst zu begreifen. Er zieht dann lieber ganz dorthin. Nach Hongkong zum Beispiel, wo er seit 2005 das von Profit und staatlicher Kontrolle unabhängige „Para/Site Art Space“ leitet. Er stellt einen chinesischen Kurator ein und tut, was auch der Hamburger Kunstverein praktiziert: Er holt Kunstinstitutionen heran, die Werke zeigen, die ihnen repräsentativ erscheinen für die Szene der Region. Fünf Institutionen aus dem südchinesischen Pearl River Delta hat er für die aktuelle Schau zusammengetragen, und sofort offenbart sich hier die Ambivalenz moderner chinesischer Kunst: das eigenartige Changieren zwischen westlicher Kunst und eigener Ästhetik.
Doch zunächst ein Spot auf das Pearl River Delta, Herkunftsregion der Werke: eine Region, zu der Hongkong und Shenzhen geographisch nicht gehören, wirtschaftlich aber sehr wohl. In den vergangenen Jahren hat sie sich zur Boomregion mit rund elf Millionen Beschäftigten entwickelt, Investoren vor allem aus Hongkong haben ihre Produktion ins Pearl River Delta verlagert – mit dem Ergebnis, das hier ständig neue Riesenstädte entstanden sind. Shenzhen ist so eine – boomend, erst 30 Jahre alt und fast ausschließlich von den jungen, dort arbeitenden Menschen bevölkert. Das beliebte chinesische Modell „Großfamilie“ hat hier keinen Platz.
Die Fotografin Amy Cheung zeigt in ihren Videos diese Youngsters: In Massen sitzen sie an der Bushaltestelle und gähnen. Sie haben Uhren um den Hals, als seien sie Schlüsselkinder, Sklaven der Zeit. Wie eine Raupe pressen sie sich später zu einer Schlange vorm Bus zusammen. Anderswo kriechen sie ohne erkennbaren Grund hinter einem Brückengeländer her. Dann sind da noch die wiederkehrenden Pirouetten der rot gekleideten Ballerina. Der Chinesische Traum – was ist von ihm geblieben? Das Gähnen als einzig Menschelndes in einer automatisierten Gesellschaft?
Schwer ist es, aufzufallen inmitten solcher Massen – sei es auf den Videos Ciao Feis, die Menschen zu HipHop auf offener Straße animiert, sei es auf dem Riesenposter von Lin Yilin, auf dem ein Mann mit an den Fuß geketteter Hand durch die Stadt läuft und die Reaktionen der Passanten interessant wären. Ja, doch: Einige bleiben stehen. Und als sich der Künstler einmal mit dem Banner „I know where Bin Laden is“ an eine Straßenecke stellte, kam es zu Diskussionen, erzählt Berger.
Doch wird das Phänomen „Masse Mensch“ für den Europäer irgendwie unbegreiflich bleiben – auch, wenn etwa Kuratoren es zu erklären versuchen. Schwer vorstellbar etwa, dass die 15 Stockwerke hohen Wohnblocks, die das Architekturbüro Urbanus nach dem Muster traditioneller Gebäude schuf, zwischen den noch höheren Wolkenkratzern wie Krater wirken. „In China“, sagt Berger, „plant ein Architekt kein Haus, sondern immer gleich eine Stadt, ein Projekt.“
Wobei die Megacities scharf kontrastieren mit der Enge im Innern: Die Interieurs bieten dem Individuum neun bis 15 Quadratmeter Platz, auf denen alles liegen und stehen muss: Tisch, Stuhl, Computer, Akten, Bilder, Staubsauger. Einheitsenge, öffentlich und zugleich privat. Leung Chi-Wo hat sie auf Fotos gebannt, die so groß sind, dass sie in den kleinen chinesischen Wohnungen nicht aufgehängt werden könnten. Keine neue Ästhetik, aber durchs Prozedere eine dezente Provokation: Chinas Luxus heißt Platz, von Individualismus ganz zu schweigen. Doch auch hier ändert sich manches, zumal Kunst im Pearl River Delta – fern der Zentren Beijing und Shanghai – weniger figurativ, dafür kritischer sein kann als anderswo. Wenn auch stets im Rahmen winziger Institutionen, die sich meist selbst finanzieren.
„Es gibt in China fast keine Museen für junge Kunst“, sagt Tobias Berger. Auch ausgestellt oder gar gefördert werde sie nicht. „Und kaufen werden das allenfalls westliche Sammler.“ Und doch präsentiert die Hamburger Schau nun keine Einheitsware, wie sie im Rahmen des China-Booms auch im Westen bereits wieder sattsam bekannt ist. Sie öffnet vielmehr den Blick für eine künstlerisch bislang wenig bekannte Region. Bietet Information über eine Gegend, die vor kurzem noch ländlich war und sich seither zum Moloch entwickelt. Sie kratzt am Bild von China als dem Reich der zufriedenen, steuerbaren Massen – und sei es auch nur das Gähnen als Geste der Renitenz.
„Man muss bedenken, dass die Generation der jetzt 40- bis 60-jährigen Chinesen unter Mao aufwuchs und mit der Individualisierung nichts anfangen kann“, sagt Berger. „Auch nicht mit der ahistorischen Perspektive der Jugendlichen.“ Das hilft verstehen, warum es für südchinesische Eltern problematisch ist, wenn ihre Kinder zu „Cosplayern“ werden, also japanische Manga-Figuren nachstellen. Jene Figuren des einstigen Todfeindes, dessen Popkultur jetzt aufs Nachbarland übergreift. Cao Fei, derzeit auf der Biennale in Venedig vertreten, hat diesen Generationskonflikt auf Video gebannt.
Postmodern, ohne in chinesischen Interna zu verharren, präsentieren sich die Arbeiten im Kunstverein; zudem durchaus mit Humor: Nicht nur die unvermeidlichen chinesischen Wasserbüffel latschen immer wieder aufreizend träge durch die schnieke Manga-Szene. Auch hat Lee Kit blaurosa gestreifte und karierte Tücher geschaffen, die er mal als Tischdecke, mal als Fahne an der Wand drapiert: Seine Antwort auf die Frage, wozu Kunst gut sein soll. Die stellen Konservative bekanntlich gern – auch in China.
Die Ausstellung ist bis zum 2. 9. im Hamburger Kunstverein zu sehen