: Bissle Friede
Sie sollte der Ausstieg aus der Endlosschleife sein, diese zweite Schlichtung zum umstrittenen Stuttgarter Bahnhofsprojekt an diesem letzten Juli-Freitag. Raus aus einer Diskussion, die sich längst im Kreis dreht. Doch dann kam alles anders. Ein Rückblick
von Susanne Stiefel und Sandro Mattioli
Die Symbolik in Stuttgart stimmt selbst bei genauerem Hinsehen: Gegner wie Befürworter des Tiefbahnhofs gleichberechtigt am Kreis des runden Tisches. Das Stehpult, von dem aus die Fakten vorgebracht werden, ist zum Fenster des Sitzungssaales im vierten Stock des Rathauses ausgerichtet, dorthin, wo unten auf dem Platz die Bürger vor der Großbildleinwand die Fernsehübertragung verfolgen. Heiner Geißler hat vor einigen Monaten das S-21-schlichtende Gemüt in sich entdeckt und neben dem grünen baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann und dem Staatssekretär für Finanzen und Wirtschaft, Ingo Rust, von der SPD Platz genommen und damit neben zwei Politikern, die gemeinsam regieren, aber in Sachen S 21 opponieren.
Hier in der Runde soll ein Schlussstrich gezogen werden unter die Auseinandersetzungen der vergangenen Monate und die ewigen Polarisierungen, die die Stadt spalten: Gegner – Befürworter. Die da unten – die da oben. Der Schlichter hat aber wohl vergessen, dass das Rund nicht immer ideal ist. Denn bei der Frage, was denn nun „gut“ ist und „wirtschaftlich optimal“ und „Premium“, dreht man sich im Kreis. Es sieht aus, als werde sich der Streit über den Bahnhof ewig weiterdrehen.
Die Stars der Schlichtung beim Public Viewing
Während drinnen im Rathaus Demokratie simuliert, Pardon: repräsentiert wird, sitzt draußen das Volk und guckt zu. Statt Schweinsteiger, Poldi und Lahm flimmern Geißler, Kefer und Palmer über die Großleinwand, die Stars der Schlichtung. Public Viewing – und hunderte von fachkundigen S-21-Gegner verfolgen mit Leidenschaft, wie drinnen der Ball hin und her gespielt wird. In der Stuttgarter Republik gehören öffentliche Plätze eben nicht nur Fußballfans. Lautstark kommentieren die etwas anderen Hooligans, was drinnen am runden Tisch diskutiert wird. „Das versteht doch draußen keiner mehr“, sagt der SPD-Mann Klaus Riedel drinnen, als die Diskussion über die Zugzahlen fachspezifisch wird. „Doch“, schallt es da draußen empört aus hunderten Kehlen. „Darf ich dazu eine Frage stellen?“, fragt der CDU-Fraktionschef Peter Hauk drinnen den Großen Vorsitzenden Heiner Geißler. „Nein“, gellt es als Antwort vom Marktplatz nach drinnen.
Immer wenn Peter Hauk, der ehemalige Agrarminister der CDU, das Wort ergreift, setzt ein schrilles Pfeifkonzert ein. „Die Leute erinnern sich eben gut an diesen Hauk-Ausspruch“, erklärt einer, der schon seit zehn Uhr vor der Leinwand sitzt, und zitiert sinngemäß: „Ob es 7, 10 oder 15 Milliarden kostet, das Projekt wird auf jeden Fall gebaut.“ Ein solches Demokratieverständnis von oben nach unten müsste eigentlich noch nachträglich eine Rote Karte der neuen Staatsrätin für Bürgerbeteiligung nach sich ziehen. Hallo, Frau Erler!
Apropos „Rote Karten“. Davon gibt es viele im Publikum draußen. Verteilt hat sie der 74-jährige Stuttgarter An- und Aufreger Peter Grohmann, der trefflich Humor mit Widerspruch verquickt. Seine Rote Karten, gedacht als Signal an die Über-die-Köpfe-Regierenden, erweisen sich als nützlich bei dieser Schlichtung, bei der im Scheinwerferlicht von Phoenix und Flügel-TV Demokratie in Szene gesetzt wird.
Drinnen streitet man sich derweil über Begrifflichkeiten. Hat eine Bahn-Infrastruktur „Premiumqualität“, baut sie Verspätungen ab. „Wirtschaftlich optimal“ heißt im Deutsche-Bahn-Deutsch, dass Verspätungen weder abgebaut werden noch neue dazukommen. So bestimmt es die Richtlinie 405 für Betriebsqualität. Der Bahnknoten S 21 wurde von den Schweizer Gutachtern der SMA als wirtschaftlich optimal zertifiziert. Zwar verfüge der Bahnhof über die Fähigkeit, wegen langer Standzeiten Verspätungen abzubauen, doch auf den Zulaufstrecken kämen neue Verspätungen dazu. So ist es im Gutachten der SMA zu lesen.
So klar die Sachlage ist, so kompliziert ist die Diskussion. Die Befürworter wollen sich ihr Projekt nicht schlechtreden lassen. Doch genau das hat Boris Palmer im Sinn, als er nach mehreren Stunden Diskussion ans Rednerpult tritt. Der Tübinger OB glänzte bei den vorigen Schlichtungsrunden mit scharfen Analysen. Eisenbahner sagen, er habe die Materie durchdrungen wie kaum ein anderer. Palmer berichtet, er habe sich in den Nächten durch das Gutachten gearbeitet, das der SMA-Chef Werner Stohler in seinem Vortrag eben vorgestellt hat. Dann legt er los.
Boris Palmer: Pünktlichkeit gerät unter die Räder
Der Grüne zerlegt das Gutachten von SMA so, wie Mitarbeiter von Personalabteilungen Zeugnisse dechiffrieren. Er sagt, SMA schreibe, dass die Pünktlichkeit der S-Bahn unter die Räder gerate. Außerdem würden Anschlüsse nicht mehr gehalten, es komme zur unpraktischen Verteilung von Zügen und dazu müssten Fernzüge entfallen. Palmer hangelt sich streng am SMA-Gutachten entlang. Werner Stohler sinkt immer weiter in sich zusammen. Palmer, Bahnexperte im Ehrenamt, macht deutlich, wie viel Wortakrobatik sich in dem Audit verbirgt. Stohler windet sich in seinem Stuhl.
Viele Stellen in dem 202 Seiten starken Papier muss man mehrmals lesen, um zu verstehen, was sie besagen: „Der Ersatz der TGV-Trasse durch einen Nahverkehrszug in der Spitzenstunde sowie die reduzierte Anzahl an Fernverkehrszügen aus Richtung Vaihingen erleichtern die Fahrplankonstruktion und -simulation.“ Übersetzt, so Palmer, heiße das: Die Bahn streicht den TGV in der Spitzenstunde, lässt stattdessen einen Nahverkehrszug fahren, außerdem fallen Intercity-Züge aus Richtung Vaihingen weg.
Palmers These ist, dass der Tiefbahnhof jetzt schon laut Zertifikat starke Mängel aufweist, obwohl die Bahn an vielen Stellschrauben gedreht habe, um mit ihrem Stresstest nicht bei der SMA durchzufallen. Würden alle Verstöße bei der Durchführung des Stresstestes behoben, würden die Ergebnisse wohl wesentlich schlechter ausfallen, mutmaßt Palmer und zieht auch dafür ein SMA-Zitat heran: „Wir empfehlen weiter, die in den Steckbriefen beschriebenen Unstimmigkeiten und kleineren Fehler zu beheben und zur Bestätigung des Gesamtresultats einen weiteren Simulationsdurchlauf durchzuführen und zu veröffentlichen.“
Jetzt ist die Stunde der Strategen gekommen. Heiner Geißler lässt die Diskussionsführung schleifen, und die Projektbefürworter nutzen das weidlich aus. Immer wieder unterbrechen sie Palmer. Ein Verhalten, das Geißler bei den S-21-Gegnern zuvor unterbunden hat. Mit Ausnahme des Stuttgarter SÖS-Stadtrats Hannes Rockenbauch, der mit Zwischenrufen auffällt, vielleicht auch um die Stimmung aufzuheizen. Schließlich ist bekannt, dass das Aktionsbündnis die Veranstaltung möglicherweise vorzeitig verlassen will.
Palmer kommt kaum dazu, seinen Vortrag geregelt abzuhalten. Dennoch drückt er Stohler und den Bahn-Technikvorstand Kefer an die Wand mit Zitaten aus dem SMA-Gutachten. Es sieht nach einem Sieg für das Aktionsbündnis aus, auch wenn Schlichtungsverfahren eigentlich nicht auf Sieg oder Niederlage zielen. Auf dem Schreibtisch von Volker Kefer landen derweil Regieanweisungen von Bahn-Kommunikationsexperte Martin Walden. „Stohler muss jetzt ran, nicht Kefer“, steht auf einem dieser Spickzettel. Oder: „Richtigstellung erforderlich.“ Und die Mahnung: „Ruhe bewahren, sonst wird Linie unklar.“ Offenbar ist in der Strategie beider Seiten ein Kompromiss nicht vorgesehen. Als dem Aktionsbündnis klar wird, dass die Befürworter das Gutachten weiter schönreden wollen, greift die vorbereitete Strategie: Man wolle nicht länger dabei mitmachen, die optimale Betriebsqualität zur Premiumqualität umzudeuten, erklärt Gangolf Stocker im Namen des Aktionsbündnisses, man werde deshalb den Verhandlungstisch verlassen.
Draußen will man nichts mehr hören
„Sollen wir uns das weiter anhören?“, fragt draußen der Moderator und Schauspieler Walter Sittler. Bei Nein geht die Mehrzahl der Roten Karten in die Höhe, und der Bildschirm vor dem Rathaus wird schwarz. Auf der Bühne der S-21-Gegner daneben wird es dagegen bunt. Die Kabarettistin Christine Prayon gibt so gekonnt die schwarze Mamba, dass manche bedauern, dass Tanja Gönner nicht mehr baden-württembergische Verkehrsministerin ist. Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau träumt von einer bunten, freien und demokratischen Stadt. Der Regisseur Volker Lösch lässt seinen Bürgerchor mit Geißler-Masken Geißler-Sprüche skandieren. Die Beiträge rattern über die Bühne wie Schnellzüge. Kurz. Trocken. Treffend.
Draußen sind die Gegner vom Aktionsbündnis jetzt die Stars. Die umjubelten Helden. Sind die, die drinnen waren, um denen draußen Gehör zu verschaffen. Die Künstler schweigen, um ihnen die Bühne zu überlassen. Damit sie sagen können, was denn vom Geißler-Frieden zu halten ist, von diesem Vorschlag, der alle überrumpelt hat, auch das Aktionsbündnis.
Nun stehen sie da und berichten. „Danke für euren Support“, schreit Rockstar Rockenbauch ins Mikro. „Der Kompromiss ist die beste Lösung, um gemeinsam in die Zukunft zu gehen“, sagt SPD-Mann Riedel. „Ich steh lieber vor dem Bahnhof als vor dem ollen Rathaus“, sagt der langjährige Stuttgarter Bahnhofsvorsteher Egon Hopfenzitz. „Ho-, Ho-, Hopfenzitz“, quittiert das Publikum den Beitrag des hochseriösen Mannes mit einer Anleihe bei einer alten 68er Kampfparole, die auch im anschließenden Demozug immer wieder aufflackert: „Ho-, Ho-, Hopfenzitz.“ Der über 80-jährige Schwabe im grauen Anzug nimmt's gelassen.
Es gibt Menschen auf dieser Veranstaltung draußen, die mit zusammengekniffenen Lippen Heiner Geißler verwünschen: „Der soll in die Klinik seines Sohnes nach Esslingen abhauen“, giftet eine Frau mit rotem Haar. Es gibt Menschen, die T-Shirts tragen wie ein Lächeln. T-Shirts, auf denen steht: „Niemand will nach Ulm.“ Es gibt Menschen, die hoffen, dass mit dem Geißler’schen Kompromiss endlich eine Lösung gefunden ist; die an ein Wende-Wunder oder eine Wunder-Wende im festgefahrenen Konflikt um einen Bahnhof glauben, an einen Einstieg in den Ausstieg aus etwas, was selbst die Süddeutsche Zeitung als das „dümmste Großprojekt“ bezeichnet. Der Überdruss wächst, und gleichzeitig gibt es viele, die von Arroganz der Macht sprechen oder zynisch kommentieren wie der Kolumnist Joe Bauer. „Hier wird eine Scheindemokratie durch Schweinwerferdemokratie ersetzt.“
Heiner Geißler hat also drinnen sein Papier aus der Tasche gezogen und alle damit verblüfft. „Wollt ihr den totalen Krieg, Wollt ihr den totalen Sieg?“, fragt er die Delegation des Aktionsbündnisses, als sie den Saal verlassen will, und zieht sein Papier aus der Tasche:
„Frieden in Stuttgart“, so der Titel des Kompromissvorschlags, der eine Kombination von Tief- und Kopfbahnhof als Lösung vorsieht. Damit holt er das Aktionsbündnis zurück an den runden Tisch. Auf die Frage, ob die Bahn angesichts des neuen Konzepts zu einem Bau- und Vergabestopp bereit wäre, antwortet Volker Kefer, sein wie in Stein gemeißeltes Ganztagsgrinsen im Gesicht, mit Nein. Am Tag darauf vergibt die Bahn Millionenaufträge. Der Stuttgarter Friede à la Geißler ist ein höchst fragiles Konstrukt.
Die Dokumente: Der SMA-Bericht zum Stresstest, dessen Auswertung von Boris Palmer und der von Heiner Geißler und SMA erarbeitete Kompromissvorschlag „Frieden in Stuttgart“ finden sich auf www.kontext-wochenzeitung.de