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Archiv-Artikel

Ein großes Wohnzimmer

Die beiden „Hinz&Kunzt“-Verkäufer Fred und Peter führen durch Hamburg. Doch ist es keine gewöhnliche Tour zu Rathaus, Michel oder Speicherstadt. Die Tour „Hamburgs Nebenschauplätze“ zeigt Orte, die zum Alltag von Obdachlosen gehören

VON JASMIN KLOFTA

Obdachlosigkeit ist für Fred kein Problem. Seit 13 Jahren lebt er immer wieder auf der Straße. „Ich habe eben ein größeres Wohnzimmer als die anderen“, sagt der 43-Jährige. Für Fred ist Obdachlosigkeit ein alternativer Lebensentwurf, einer, der freier ist. Staatliche Hilfe lehnt er deshalb ab. „Ich will solange unabhängig bleiben, wie es für mich tragbar ist“, sagt er. Und als spräche er über ein gesetztes Leben, fügt er hinzu: „Ich weiß aber nicht, wie lange ich mir diesen Standard noch leisten kann.“

Sein Geld verdient Fred seit sechs Jahren als einer von 450 Hinz&Kunzt-Verkäufern, die das monatlich erscheinende Straßenmagazin mit geregelten 85 Cent Gewinn pro Stück verkaufen. Ein Zubrot verdienen sich Fred und der ehemalige Obdachlose Peter durch Stadtführungen. In den letzten vier Jahren haben die beiden rund 500 Mal mit „Hamburgs Nebenschauplätzen“ auf den Alltag der etwa 4.500 Hamburger Obdachlosen aufmerksam gemacht.

Offen erzählen Fred und Peter vor der Bahnhofsmission von sich selbst. Peter hat fünf Jahre auf der Straße verbracht, blickt auf Drogensucht und 15 Jahre Haft zurück. Inzwischen hat er eine Wohnung. Er krempelt die Ärmel seines FC-St.-Pauli-Pullovers hoch. Zum Vorschein kommen tätowierte Arme, Überbleibsel aus alten Tagen.

Diesmal begleitet eine Schülergruppe aus Schleswig die beiden. Die meisten holen gerade den Hauptschulabschluss nach. Matthias Vollbehr, Oberstudienrat an den Beruflichen Schulen in Schleswig, macht die Führung schon zum zweiten Mal mit. „Ich finde es gut, dass hier soziale Probleme hautnah vermittelt werden“, sagt er.

Erste Anlaufstelle ist das „Drob Inn“ am Hauptbahnhof. Die Gruppe muss draußen bleiben. Der „Zoo-Effekt“ soll vermieden werden. Deshalb beobachten alle von weitem eine umzäunte Menschentraube. Es sind Drogenabhängige, die im alten Wüstenrot-Gebäude die Drogenkonsumräume nutzen. Ihr Leben dreht sich einzig um die Droge und ihre Beschaffung. Eine Wohnung kann kaum einer halten. Aber Drogensucht oder Alkoholismus sind nicht die einzigen Ursachen für Obdachlosigkeit. „Eigentlich geht es immer um einen Schicksalsschlag, der nicht verarbeitet werden konnte“, sagt Peter. Das könne eine Scheidung, der Bankrott der eigenen Firma oder der Tod eines Familienmitgliedes sein. „Deshalb gibt es in Hamburg Obdachlose, die eigentlich Zahnarzt, Ingenieur oder sogar Opernsänger sind.“ Nur 15 Prozent der Obdachlosen sind weiblich. Fred hat dafür eine eigene Erklärung: „Es ist genetisch, dass Frauen sich eher um ihr soziales Umfeld kümmern und Netzwerke aufbauen. Die fangen sie in Krisen auf.“

Dass die Obdachlosen durchschnittlich immer jünger werden, wundert die Schüler nicht. Nadine Johannsen hat Angst: „Heute ist man schneller obdachlos, als man gucken kann“, sagt die 22-Jährige. „Mein Verlobter hatte einen festen Job und gut verdient. Und innerhalb eines halben Jahres war er obdachlos.“ Die Schülerin will sich deshalb bei der Führung Tipps abholen: „Falls es mir dann passiert, habe ich hier gelernt, was ich tun kann.“

Aus dem „Herz-As“ dringt der Geruch von Erbsensuppe bis nach draußen. Die Einrichtung versucht, Obdachlosen im Alltag zu helfen. Dazu gehört nicht nur ein warmes Mittagessen. Viele Obdachlose haben sich hier eine Postadresse eingerichtet. Sie ist von den Behörden anerkannt und als Nachweis für den Antrag auf Sozialleistungen wichtig. Zudem gibt es Duschen und einen Waschservice. „Jeder Obdachlose, der was von sich hält, hat zwei oder drei Garnituren“, sagt Fred und zeigt auf sein blaues Hemd, das er in seine dunkle Jeans gesteckt hat. An seiner schwarzen Bauchtasche baumelt ein Jutebeutel. „Das gibt man alles ab und bekommt es abends sauber wieder.“

Im „Stützpunkt“ der Caritas beim Klosterwall kann jeder Obdachlose seine Sachen für den Tag wegschließen. Das Projekt wird von Geschäften in der Innenstadt unterstützt, denn die Ladeninhaber störten sich weniger an den Obdachlosen als an ihrem Gepäck. Doch nicht alle Geschäfte engagieren sich gleichermaßen für Obdachlose. „Der Geschäftsführer von C&A in der Mönckebergstraße grüßt morgens und lässt im Winter auch mal heiße Getränke verteilen“, sagt Fred. Nur ein paar Meter weiter sieht es anders aus. Im Eingangsbereich von Peek & Cloppenburg kann kein Obdachloser „Platte machen“, also auf dem Fußboden schlafen. Nach einer Renovierung wurden am Eingang Düsen in die Marmorwände eingebaut, aus denen in unregelmäßigen Abständen Wasser auf den Boden läuft. Die Nässe sei für die Obdachlosen nicht nur unangenehm, sondern im Winter sogar lebensbedrohend, sagt Fred. „Auch wenn sie das offiziell nur zur Reinigung machen, weiß doch jeder, dass sie damit die Obdachlosen vertreiben wollen.“

Statt Vertreibung fordern Fred und Peter mehr Akzeptanz. „Obdachlose sind keine Menschen zweiter Klasse“, sagt Fred. Das wollen sie mit der Führung zeigen, die nach zwei Stunden bei Hinz&Kunzt endet. Fred und Peter blicken in die müden Gesichter der Schüler. Nur Nadine Johannsen gähnt nicht. In Gedanken macht sie sich noch immer Notizen. „Als Obdachloser muss ich genau planen, wohin ich zum Essen, zum Duschen und zum Schlafen gehe“, resümiert Fred. Da liegen die Grenzen seiner Freiheit. „Die Einrichtungen geben die Regeln vor und nicht ich. Einfach in den Tag leben geht nicht.“

Fred und Peter führen monatlich oder nach Absprache durch ihr Revier. Kosten: 10,-/5,- Euro. Anmeldung erwünscht per E-Mail unter info@hinzundkunzt.de oder telefonisch unter ☎ 040 / 32 10 83 11