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Archiv-Artikel

Die Umwälzung der Verhältnisse

AVANTGARDE Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde das Leben zum Experiment. Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau dokumentiert die künstlerische Aufbruchstimmung an der Moskauer WChUTEMAS (1920–1930)

Architekturentwürfe 1920–1930

Die WChUTEMAS, auch als russisches Bauhaus bezeichnet, war eine legendäre Kunstschule in der jungen Sowjetunion der 1920er Jahre. Die erste Ausstellung in Deutschland zeigt einen Ausschnitt aus dem Wirken von WChUTEMAS mit dem Schwerpunkt Architektur. Etwa 250 Werke von Lehrern und Studierenden, wie Skizzen, Zeichnungen, Malerei und Modelle, dokumentieren diese künstlerische Utopie der Moderne, die bis in die heutige Zeit ausstrahlt. Erarbeitet vom Staatlichen Schtschussew-Museum für Architektur Moskau.

■ WChUTEMAS – Ein russisches Labor der Moderne: Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, ab 5. Dezember, Mi.–Mo., 10–19 Uhr, www.berlinerfestspiele.de

VON MARGARETE VÖHRINGER

An der WChUTEMAS, den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten in Moskau, richtete der Architekt Nikolai Ladowski 1927 ein sogenanntes Psychotechnisches Architekturlabor ein, in welchem er mit fünf „Glazometry“ (Augenmetern) die Wahrnehmung der Architekturstudenten trainierte. Nach dem Vorbild der angewandten Psychologie in Deutschland wurden Tests im Einschätzen von Volumen, Raumtiefe, Winkelverhältnissen und Oberflächengrößen durchgeführt, die Reaktionszeit gemessen, das Ganze mehrmals wiederholt und auf persönliche „Psycho-Profil-Kärtchen“ geschrieben. So konnten die Architekten kontrollieren, ob sich ihr Einschätzungsvermögen verbesserte. Auf den Straßen sollten die sie dann visuelle Eindrücke sammeln, mithilfe der Glazometry nachstellen und optimieren, in ein räumliches Modell übertragen und schließlich in ein Gebäude umsetzen. Mit einem Wahrnehmungsmessgerät, dem „Prostrometer“, führte dieser außerdem Experimente durch, für die ihm die angehenden Architekturstudenten als Probanden dienten. Das „Psychotechnische Labor für Architektur“ begeisterte damals auch einen berühmten französischen Kollegen: Le Corbusier unterzog sich einem solchen Test. Es kam heraus, dass er nicht alle Anforderungen erfüllte, die die WchUTEMAS an ihre Bewerber stellte: Er verfügte nicht über die Fähigkeit des räumlichen Sehens.

Nach der Oktoberrevolution von 1917 war das Leben in Russland zu einem Experiment geworden. Die Avantgarde stellte sich die neue Gesellschaft damals als eine quasi künstlerische Versuchsanordnung vor. Nach formalistischem Ideal setzten sie Kunst als Verfahren der Sichtbarmachung dazu ein, die automatisierte Wahrnehmung des unterdrückten Arbeiters mittels künstlerischer Verfremdung zu befreien. Es galt, alle Bereiche des nun sozialistischen Alltags umzustrukturieren.

Kaum ein Ort hat in den 1920er Jahren für mehr Furore in der russischen Kunstwelt gesorgt als die auf Anordnung Lenins 1921 aus der Zusammenlegung zweier Kunsthochschulen neu gegründete WchUTEMAS. Und das nicht nur, weil sich hier berühmte Künstler wie El Lissitzky und Wladimir Tatlin tummelten. Hier wurden gänzlich neue Methoden des Gestaltens entwickelt. Die mit verschiedenen Fakultäten und Laboren für Architektur, Grafik, Photographie, Theater, Plastik, Textilverarbeitung und Bildende Kunst ausgestattete Einrichtung zählte bald knapp 100 Mitglieder und 2.500 Studenten. Nicht zuletzt wegen der neuen Freiheiten, die sie genossen: Die Studenten hatten eine große Auswahl an Studienrichtungen und konnten sich individuell für Lehrer und verschiedene Lehrmethoden entscheiden.

Und die Konjunktur interdisziplinärer Ansätze im postrevolutionären Russland war wesentlich weitgreifender, als dies heute der Fall ist. Es interagierten nicht nur die verschiedenen künstlerischen Disziplinen miteinander, die Künste sollten sich auch mit den modernsten Wissenschaften verbünden.

Kaum ein Ort in den 1920er Jahren sorgte für mehr Furore in der russischen Kunstwelt

Entsprechend begann Alexander Rodtschenko seine Grafikkurse mit Übungen, bei welchen die Studenten einfache Formen (Kreis, Dreieck und Quadrat) miteinander kombinierten, um den visuellen Eindruck verschiedener Kombinationen zu testen. Moisei Ginzburg, der Theoretiker des Konstruktivismus, beschrieb dies als Forschung: „So erzeugt das konstruktive System kraft unserer Wahrnehmungserfahrung und des Menschen psycho-physiologischer Besonderheiten […] das ästhetische System“ und drückte damit die damals verbreitete Hoffnung aus, die Veränderung der äußeren Umgebung – also der Architektur – würde auch ihre Bewohner verändern. Ziel waren nicht schönere Gebäude, sondern die Umwälzung der Verhältnisse und die Bildung eines neuen, bislang unbekannten, von aller Unterdrückung befreiten Arbeiters.

Diese Absicht war ganz realistisch gemeint und brachte etliche Bauten hervor. Die Architekten agierten im Zentrum der Macht, zumindest solange ihre moderne Lebenseinstellung mit der ihrer Staatsmacht übereinstimmte. Nikolai Ladowski, Konstantin Melnikow und die Wesnin-Brüder prägten das neue sozialistische Russland mit extravaganten Arbeiterclubs, kollektiven Wohnanlagen, U-Bahn-Stationen und Kaufhäusern. Ihre Studenten zerstreuten sich nach Schließung der WChUTEMAS 1930 bis in die letzten Winkel des Vielvölkerstaates, sodass sich die futuristische Architektur aus Glas, Stahl und Beton erst recht über das ganze Land verbreitete. Die utopischen Zukunftsvisionen, die fliegenden Städte und rotierenden Türme, die wir nur vom Papier kennen, wurden so tatsächlich zur alltäglichen Umwelt der Arbeiter. Irgendwo in Kasachstan, Sibirien oder Georgien zieren sie bis heute im kleinen, aber machbaren Maßstab Kioske, Fabriken oder Wartehäuschen.