TAZ-ADVENTSKALENDER: PESTALOZZISTRASSE 5
: An Schalcks Schreibtisch

5. DEZEMBER Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man täglich eine nummerierte Tür öffnen – und sich überraschen lassen

„Dieses Gebäude war eine Provokation“, sagt Max Mönch und schaukelt ein wenig auf dem Chefsessel vor dem handgedrechselten Schreibtisch aus Echtholz. „Die grauen Männer im bürgerlichen Pankow mit seinen Schriftstellern und Künstlern.“ Dann erzählt Mönch, der in einem Altbau gegenüber aufgewachsen ist, die Geschichte einer Nachbarin, der Gattin eines hoch angesehenen Schriftstellers. „Die schrieb eine Eingabe, dass sie den grauen Männern gegenüber nicht mehr immer beim Pissen zusehen möchte. Kurz darauf waren blickdichte Toilettenfenster eingebaut.“

Inzwischen hat Max Mönch, der mit Alexander Lahl und Kitty Kahane gerade das DDR-Comic „Treibsand“ vorlegte, die Seiten gewechselt – und schaukelt am Schreibtisch, an dem einst der DDR-Außenhandelskönig Alexander Schalck-Golodkowski residierte. In der Pestalozzistraße 5–8 hatte das Außenhandelsimperium Intrac seinen Sitz.

Am anderen Ende des Tischs sitzt Stephan Felsberg. Der Kulturwissenschaftler hat zusammen mit Mönch, Lahl und Tim Köhler das Büro „Die Kulturingeniere“ gegründet – und in der Pestalozzistraße günstige Büroräume gefunden. Seitdem lässt ihn die Geschichte nicht los. „Der Schreibtisch war ein Zweiklassenschreibtisch“, sagt Felsberg. „Die Fläche, an der Schalck saß, war zwanzig Zentimeter höher als die Ränder des U-förmigen Tischs, an denen er seine Untergebenen zum Rapport bat.“

Auch sonst erinnert in der Pestalozzistraße noch viel an die Zeit, in der hier Müllgeschäfte oder Goldtransaktionen mit dem Westen abgewickelt wurden. 700 Beschäftigte hatte die Intrac, die größte Firma in Schalck-Golodkowskis Handelsimperium Kommerzielle Koordinierung (KoKo). Heute befinden sich dort junge Künstler, vier Gerichtsvollzieherinnen, eine Musikschule – und im Nebengebäude die Kunstetage Pankow.

„Die Nachwendegeschichte des Gebäudes war offenbar mindestens so spannend wie das, was Intrac gemacht hat“, weiß Felsberg und verweist auf Unmengen von Kondomen, die man beim Einzug in die Büros hinter den Heizkörpern gefunden habe. „Offenbar wurden hier auch Pornos gedreht.“ Inzwischen gehört der Plattenbau, der nicht richtig in die schmucke Gründerzeitkulisse der Pestalozzistraße passt, einem Hamburger Kaufmann. Er hatte es von der Treuhand erworben.

Renoviert worden ist der Gebäudekomplex bis heute nicht. Der Fahrstuhl des 1964 errichteten Gebäudes wurde zuletzt im Wendejahr erneuert, auf den Böden liegt DDR-Linoleum, die Kantine bietet Fleisch und Kartoffeln, als hätte es neben der friedlichen Revolution nicht auch eine Ernährungsrevolution gegeben. Auch der Briefkasten hängt noch, in den die „grauen Männer“ von Intrac Kärtchen mit dem Wunsch nach Theaterkarten einwerfen konnten.

„Wenn man in der Pestalozzistraße arbeitet, braucht man kein DDR-Museum“, sagt Max Mönch, der immer noch in Pankow lebt. Nur dass die Platte nun keine Provokation mehr ist. „Wir haben das Gebäude schließlich übernommen.“ UWE RADA