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Archiv-Artikel

„Ich bin sehr gerne barfuß“

MUSIK Starke Persönlichkeiten mit klaren Haltungen provozieren Widerspruch, meint die Pianistin Alice Sara Ott. Sie selbst hat Glück gehabt. Ihre Karriere entwickelte sich lautlos

Alice Sara Ott

■ 26, hat einen deutschen Vater und eine aus Japan stammende Mutter. Mit vier Jahren begann sie Klavier zu spielen – ein Wunderkind. Preise und Auszeichnungen bekam sie schon früh. Heute ist sie eine etablierte Pianistin, die trotz ihres Erfolges nicht auf Starallüren, sondern auf Experimente setzt.

GESPRÄCH JENS UTHOFF FOTOS MIGUEL LOPES

taz: Frau Ott, erinnern Sie sich noch an die ersten Male, die Sie am Klavier saßen?

Alice Sara Ott: Nicht sehr deutlich. Ich kam als Drei- oder Vierjährige zum Klavierspielen. In dem Alter kann man Gefühle, die man hat, oft nicht gut mit Worten ausdrücken. Ich habe diese Möglichkeit wohl in der Musik gesehen, wenn auch nicht bewusst. Meine Eltern nahmen mich bereits mit drei Jahren in Konzerte mit. Ich sah dort, wie sich jemand ans Klavier setzte und die Leute ihm zwei Stunden lang ruhig zuhörten. Wahrscheinlich dachte ich: Wenn ich das mache, hören die Leute mir zu.

Ihre Mutter war Pianistin, wollte aber nicht, dass Sie auch eine werden. Nun sind nicht nur Sie es geworden, sondern auch Ihre jüngere Schwester Mona Asuka.

Bei mir war meine Mutter sehr dagegen, bei meiner Schwester nicht mehr so. Sie wollte, dass ich zu einem normalen Menschen heranreife und keine verrückte Musikerin werde.

Wenn Sie sich heute in der Klassikbranche sehen, können Sie Ihre Mutter dann verstehen?

Definitiv. Eltern wollen doch, dass die Kinder ein sorgenfreies Leben haben. Das ist in unserem Job nicht gegeben – es könnte morgen vorbei sein. Wenn wir einen Monat pausieren, verdienen wir eben nichts.

Das sagen Sie, obwohl Sie eine hoch angesehene Pianistin sind?

Ich hatte viel Glück. Das ist aber keine Garantie. Ich bin auch kein Newcomer mehr. Gut, im Vergleich zu anderen bin ich noch ein Küken, aber es kommen immer viele gute, auch gut aussehende junge Menschen auf diesen Markt.

Spielt Ihr Aussehen denn für Ihre Karriere eine Rolle?

Ich weiß es nicht. Aber ich denke, als junge Frau besteht die Gefahr, dass man auf etwas reduziert wird, das außerhalb der Musik liegt.

Haben Sie deshalb mal gesagt, Sie würden sich auf Ihre ersten grauen Haare freuen?

Ja, weil ich eine Zeit lang in der Presse stets als die modebewusste, junge Frau dargestellt wurde. Wenn bei einem Foto-Shooting schöne Bilder entstehen, dann wird man darauf reduziert, dann heißt es: „Sie ist nicht nur schön, sondern?“ Dieses „Sondern“ verstehe ich nicht. Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Aber nur deshalb würde ich jetzt nicht in einem Sack auftreten.

Ist die Klassikbranche denn so ein Hauen und Stechen?

Ich denke, alles in allem ist der Musikbetrieb doch fair geblieben. Die musikalische Ausbildung ist nicht mehr so elitär, es ist egal, ob man reich ist oder arm – man muss auch nicht mehr unbedingt Meisterkurse besuchen oder an Wettbewerben teilnehmen, um berühmt zu werden. Man kann heute ein Video auf YouTube hochladen und mit etwas Glück wird jemand auf einen aufmerksam.

Als Sie einmal Lang Lang in London vertraten, waren die Kritiker aus dem Häuschen. Wie viel bedeuten Ihnen Preise und Lob?

Ich habe mit 17 Jahren aufgehört, an Wettbewerben teilzunehmen. Mein Weg war es, Programme akribisch vorzubereiten und Konzerte zu spielen. Generell gibt es etwas in mir, das sich gegen dieses Konzept stellt, dass Menschen in der Musik gegeneinander antreten und dort Leute sitzen, die das mit Punkten bewerten. Musik ist so vielfältig, man kann sie nicht auf Richtig oder Falsch beschränken.

Aber Lang Lang zu vertreten, das ist doch etwas Besonderes.

Klar. All diese Einspringerjobs sind tolle Möglichkeiten für junge Künstler. Lang Lang hat inzwischen einen Status, den so schnell keiner erreichen wird.

Welches ist bei einem Auftritt der überwältigendste Moment?

Der Moment nach dem Schlussakkord. Nachdem ich den letzten Ton gespielt habe, kommt immer der Augenblick, bis die Leute beginnen zu klatschen. Da ist eine extreme Spannung. In dem Moment spüre ich die Gefühle des Publikums am deutlichsten. Wenn die Leute „Bravo“ rufen, ist es natürlich auch toll.

Kürzlich haben Sie im Berghain, einem legendären Berliner Elektro-Club, gespielt. Klassik stand da bisher eher nicht auf dem Programm. Wie kam es dazu?

Das war im Rahmen der Yellow Lounge der Deutschen Grammophon. Die Yellow Lounge ist ein Format, mit dem wir klassische Musik an popkulturelle Orte bringen. Das Schöne daran ist, dass viele Menschen kommen, die wenig Erfahrung mit klassischer Musik haben. Die Reaktion ist dadurch sehr ehrlich und natürlich. Und das Publikum ist näher an uns dran als etwa in der Philharmonie.

Gefällt Ihnen das besser?

Ich mag beides. Die großen Säle haben auch ihren Reiz, die haben oft eine perfekte Akustik. Aber je näher die Menschen dran sind, desto wohler fühle ich mich. Das hat so eine intime Atmosphäre.

Geht es da auch lockerer zu?

Auf jeden Fall. Wir sind hier in Berlin, da geht es sowieso lockerer zu. Als ich gerade aus München hergezogen bin und meinen Nachbarn siezte, sagte der sofort: „Wir sind hier in Berlin – was siezt du mich?“

Sind die Klassikszenen von München und Berlin denn überhaupt so einfach vergleichbar?

Definitiv. Nur sieht man in Berlin auch Menschen, die mit Jeans in die Oper gehen. Ich mag München trotzdem. Und ich mag Leberkäse und Butterbrezel. München kann snobbish sein, aber man kann dem auch gut entgehen.

Finden Sie die Etikette und Höflichkeitsformeln in Konzertsälen manchmal anstrengend?

Ich habe eher Mitgefühl mit dem Publikum, weil es die ganze Zeit daran denken muss, sich zu benehmen. Sicher sollte man nicht laut miteinander reden, aber am Ende ist Musik dazu da, die Leute glücklich zu machen. Da sollte die Grundhaltung entspannt sein. Deshalb bin ich auch gegen einen Kleidungskodex. Ich finde, es sollte egal sein, in welchen Klamotten man auf ein Konzert geht. Und das mit dem Husten im Saal ist auch so ein Teufelskreis: Es heißt, man darf nicht husten – umso mehr kommt dieser Zwang, es zu tun. Im Kino oder im Jazzclub sind die Leute einfach entspannter.

Sie sind im Berghain mit Francesco Tristano aufgetreten, mit dem Sie auch gemeinsam ein Album aufgenommen haben. Es wirkt, als spielten Sie sich gegenseitig die Bälle zu, als kommunizierten Sie auf Ihren Klavieren miteinander.

Ein bisschen ist es so. Wir sind zwei Solisten, die zusammenkommen für ein Projekt. Wir versuchen, nicht gleich zu klingen, wir haben ohnehin unterschiedliche Ansätze. Er spielt auf einem Yamaha-Piano, ich auf einem Steinway. Für ihn ist das Klavier ein perkussives Instrument, für mich ist es ein Saiteninstrument.

Inwiefern Saiteninstrument? Spielen Sie sanfter und er rhythmischer?

Nicht unbedingt. Er mag es, wenn der Ton sofort mit dem Anschlagen auf der Klaviatur ertönt. Ich mag es, wenn er eine Millisekunde später ertönt. Das hört man eigentlich kaum. Aber man spürt es. Wenn wir zusammenspielen, stacheln wir uns gegenseitig an. Nach einem zweistündigen Konzert sind wir physisch an unserer Grenze. Francesco macht aber auch sehr viel elektronische Musik. Das erste Stück ist ja auch fast ein Technostück.

Techno auf dem Klavier?

Genau. Akustisches Techno. Ein zeitgenössisches Stück, das Francesco selbst komponiert hat. Das ist minimalistische Musik, die Menschen heutzutage in den Clubs hören. Für mich ist das ein kleiner Ausflug in ein anderes Genre.

Wovon hängt es ab, ob ein Konzert gelingt?

Die Musik entsteht eigentlich mit jedem Live-Moment immer wieder neu. Es kommt auf die Wärme im Saal, auf den Raum, auf das Publikum an. So kann ein Pianoforte an einem Tag ganz anders klingen als an einem anderen Tag. Das ist einfach nicht planbar.

Wie fühlen Sie sich nach einem Konzert?

Erschöpft. Aber es ist ein gutes Gefühl.

Also nicht erschöpft im Sinne von leer?

Nein. Musik erzeugt alles andere als Leere. Es dauert zwar ein bisschen, bis ich wieder auf dem Boden der Tatsachen bin. Aber es ist ein sehr erfüllendes Gefühl, wenn man das macht, was man leidenschaftlich gern macht, und darauf Reaktionen bekommt.

Wie kam es zu Ihrer Zusammenarbeit mit Francesco Tristano?

Wir kannten uns, sagten immer schon, wir müssten mal etwas zusammen machen. Es ist dann ein sehr besonderes Projekt geworden.

„Scandale“ ist der Titel. Sie spielen Teile aus Strawinskys Ballettstück „Le sacre du printemps“, das bei der Uraufführung 1913 ein Skandal war. Sie selbst sind wohl keine Person für Skandale, oder?

Ach, was ist heutzutage noch skandalös? Selbst wenn man nackt auf die Bühne kommen würde, wäre es kein Skandal. Nipplegate war kein Skandal. Nur noch sehr negative und extrem kriminelle Sachen taugen für Skandale.

Kann es dann noch Aufgabe der Kunst sein oder war es je Aufgabe der Kunst, Skandale zu provozieren?

Ich weiß nicht, ob es je das eigentliche Ziel war. Es gab in der Kunst einfach immer sehr starke Persönlichkeiten, sehr klare Meinungen und Haltungen – wenn man von etwas überzeugt ist und seinen Willen durchsetzt, wird man immer auf Widerstände treffen.

Aber es war im Kontext von „Le sacre“ schon wichtig, oder?

Ja. Wir verstehen unser Album als Hommage an Sergei Djagilew, der damals die Ballets Russes gründete und für den Strawinsky das Stück komponiert hat. Djagilew war ein Mensch, der die Kunst über alles liebte. Er hat die damaligen Künstler alle zusammengebracht. Er hat ihnen einen Rahmen gegeben, sich frei zu bewegen und ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Ein Stück wie „Le sacre“ wollte die Menschen aus ihrem gutbürgerlichen Dasein herausreißen. Damals aber waren die Leute noch nicht bereit für die polytonale, polyrhythmische Musik Strawinskys. Und auch für die Choreografie waren sie noch nicht bereit.

Warum wollten Sie zusammen unbedingt „Le sacre“ neu interpretieren?

Als Klavierduo kommt man an diesem Stück nicht vorbei. Das ist einfach tolle Musik. Musik, die die Musikwelt verändert hat.

Wollen Sie den jüngeren Leuten die Klassik mit einem solchen Album näherbringen?

In gewisser Weise. Wir gehen in Musikschulen und erklären die Hintergründe zu den Komponisten. Popmusik ist den Leuten deshalb so nah, weil sie sich in den Texten, im Lebensstil des Künstlers wiederfinden. Sie können sich mit der Kunst identifizieren. All das gibt es aber auch in der klassischen Musik. Die Schüler wissen oft gar nicht, dass manche Komponisten viel härtere und verrücktere Leben als die heutigen Rockstars geführt haben. Wenn sie die Biografien dazu kennen, hören sie die Musik mit anderen Ohren. Die Rolling Stones sind nichts dagegen.

Was halten Sie von Crossover-Artisten wie David Garrett oder Daniel Hope?

Es gibt viele Wege, den Menschen die klassische Musik nahezubringen, und ich denke, es ist ein sehr erfolgreicher Weg. Ich sehe mich nur selbst nicht darin.

Die stehen aber auch für etwas sehr Massenkompatibles, oder?

Ja, mein Gott! Die Masse entscheidet, was am meisten gehört wird. Es gibt kein Richtig und kein Falsch.

„Ich mag Rockmusik. Ich mag auch Techno, gehe ab und zu in Clubs. Aber ich kann nicht tanzen“

Hören Sie selbst Pop?

Ich mag Rockmusik. Ich mag auch Techno, gehe ab und zu in Clubs. Aber ich kann nicht tanzen.

Nicht?

Es gibt viele Musiker, die sich körperlich nicht gut bewegen können. Das geht bei mir irgendwie nicht.

Wie viel üben Sie am Klavier?

Die Leute sagen immer: Sie müssen bestimmt viel üben! Aber es gehört so viel mehr dazu – mehr als nur manuelles Üben. Damit man die Leute bewegt, muss man ein Leben gelebt haben.

Wie meinen Sie das?

Na ja, die Pubertät, erster Liebeskummer, Rebellion gegen die Eltern, das alles muss man erlebt haben, das ist so wichtig, um zu einem erwachsenen Menschen zu werden.

Wie sah Ihre Rebellion aus?

So ähnlich wie bei jedem Teenager, der gegen seine Eltern rebelliert. Ich habe allerdings immer viele Gespräche und Diskussionen mit meinen Eltern gehabt. Ich habe als Kind bereits viel „Warum“, „Warum“ gefragt. Meine Eltern haben meine Fragen zum Glück nicht mit einem „Darum“ abgetan. Heute glaube ich, ein Kind großzuziehen ist eigentlich die größte Herausforderung im Leben, und ich hoffe, dass ich das dann auch hinbekomme, wenn ich einmal ein Kind habe. Hoffentlich schlägt es dann nicht genauso einen Weg ein wie ich.

Warum „hoffentlich nicht“?

Es ist wirklich nicht so, dass ich meinen Weg bereue. Ich freue mich, dass ich meine Leidenschaft zum Beruf machen konnte. Aber wenn ich das so betrachte und sehe, dass ich siebzig Prozent des Jahres unterwegs bin, würde ich das meinem Kind vielleicht nicht wünschen.

Sind Sie immer allein unterwegs?

Die meiste Zeit, ja. Im Solistenberuf muss man allein sein können. Ich mag aber auch den Moment, nach dem Konzert allein ins Hotelzimmer zu kommen. Dort werde ich nach diesem ganzen Im-Mittelpunkt-Stehen wieder ein normaler Mensch mit allen Stärken und Schwächen. Ich komme runter.

Sie spielen immer barfuß. Warum?

Die Leute haben mir mal vorgeworfen, dass sei so eine Marketing-Geschichte. Das ist natürlich Quatsch. Ich bin generell sehr gerne barfuß, und vor etwa fünf Jahren habe ich auf einem ziemlich alten Instrument gespielt, auf dem Franz Liszt schon konzertiert hat. Bis dahin habe ich immer mit High Heels gespielt, und bei dem Instrument merkte ich, dass ich die Knie nicht unter die Tastatur schieben kann. Da ich keine anderen Schuhe dabeihatte, musste ich eben barfuß spielen. Das hat sich so gut angefühlt, dass ich es nun immer so mache. Es hat keinen spirituellen Hintergrund oder so – und auch keinen kommerziellen.

Apropos spirituell: Bereiten Sie sich mental vor auf ein Konzert?

Ich meditiere nicht oder so. Ich muss nur ausgeschlafen sein. Und ich brauche Schokolade, viel Zucker. Mehr brauche ich nicht. Und ich habe so einen Rubik’s Cube, einen Zauberwürfel, um meine Hände aufzuwärmen.

Denken Sie manchmal daran, dass von den Fingern Ihr gesamtes Kapital abhängt?

Es ist nicht gut, wenn man zu sensibel durch die Welt läuft, sonst verpasst man das ganze Leben. Beim Bowling hab ich’s mal erlebt, dass mein Finger stecken geblieben ist… Außerdem koche ich auch unglaublich gern, am liebsten japanische Hausmannskost. Wenn ich da kein Messer anrühren dürfte, nee, das wäre ja furchtbar.

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