Nur Vopos schauten uns zu

SUBKULTUR Das Ding glitzerte: Die Alternative Szene West fühlte sich im Schutz der Mauer über Jahre sauwohl – Erinnerungen an den Sehnsuchtsort Westberlin

■ Bernd Cailloux wurde 1945 in Erfurt geboren, lebte dann in Bremen und Düsseldorf und zog 1977 nach Westberlin, in das „glitzernde Ding“, wie er sagt.

■ Sein Roman „Das Geschäftsjahr 1968/69“ wurde von der Kritik einhellig und ausgiebig gefeiert, auch in der taz. Zuletzt erschien von ihm der Band „Der gelernte Berliner – Sieben neue Lektionen“. Ein neuer, auch Berlin thematisierender Roman wird im kommenden Frühjahr erscheinen – wie seine anderen Bücher im Berliner Suhrkamp Verlag.

VON BERND CAILLOUX

Auch für Erinnerungen an diesem 13. August gilt die Feststellung des heiligen Augustinus: „Im Hof des Gedächtnisses ist alles gleichzeitig vorhanden, mal quillt das eine, mal das andere hoch.“

Jahr für Jahr wird in Sachen Mauer der Hof des deutschen kollektiven Gedächtnisses sogar geflutet – im August gibt’s Wissenswertes zum Mauerbau, im November zum Mauerfall. So erscheint der steinerne Fetisch doppelt im jährlichen Gedenkprogramm, mal als Anlass zur Volkstrauer, mal als einer der Volksfreude. In diesen Tagen bangt der geneigte Mediennutzer erneut für Minuten mit der Oma, die aus dem östlich gelegenen Fenster ins Westsprungtuch plumpst … und lässt sich nur kurz darauf aufs Neue von den tanzenden Menschen auf einem bunt bemalten Steinwall anrühren, bis die Augen feucht werden.

Wer als gelegentlicher Medienmitarbeiter meiner Generation zudem eine Neigung zum Archivieren hat, der kann aus vordigitalen Zeiten thematisch noch einiges nachlegen – Unmengen Zeitungsausschnitte, Fotos, Extrablätter, DVDs. Frage an Radio Eriwan: Kann das weg? Antwort: Im Prinzip jein.

Das Kofferraumpärchen

Aber auch ohne meine gut gefüllten Gedenkmappen, ohne die geschichtsseligen TV-Abende fallen mir in diesem Zusammenhang genügend Reminiszenzen, Begegnungen und Storys ein. In den Erinnerungen ist tatsächlich alles gleichzeitig vorhanden, willkürlich oder zufällig assoziiert quillt das eine und das andere hoch – so meine damals im Kennenlernrausch eines Neuberliners begonnene Suche nach Anfang und Ende des zig Kilometer langen Bauwerks (bei Düppel sah’s aus wie der Running Fence von Christo); oder mein erster Mauerspringer, anno 76 in der Kneipe kennengelernt (ein langhaariger, kurz zuvor rübergekommener Junge, „Wie aus’m Ostteil?“, „Mit ’ner Leiter und gutem Auge, wer an der Mauer wohnte, wusste alles“); und schließlich mein Kofferraumpärchen aus Kleinmachnow (vierzig Mille fürs Transitticket, dann im Westen putzen gehn und noch nach der Wende die Schuld abstottern, „eine Frage der Ehre“, sagten beide).

Ich erinnere mich an die beängstigend schöne Leere des Potsdamer Platzes, voll Wehmut auch an das sonntägliche Kicken vorm Reichstag, nur die Vopos auf ihren Wachtürmen am anderen Ufer der Spree schauten uns zu. Frage an Radio Eriwan: Wo ist eigentlich die süße kleine Magnetbahn vom Gleisdreieck abgeblieben? Antwort vom Redakteur Bourdieu: Berlin ist der Ort der unbeantworteten Fragen.

Meine vorerst letzte Auseinandersetzung mit dem antifaschistischen Schutzwall fand 2009 in der Chausseestraße statt – anlässlich einer Einladung ins Brecht-Haus, um den zwanzigsten Jahrestag nach seinem Zubruchgehen zu diskutieren: „Was 89 zu Ende ging – in einer Stadt: Alternativszene West und Bildungsbürgertum Ost“.

Überwiegend aus Letzterem bestand das überwiegend weißhaarige Publikum, das unruhig wurde, nachdem mich ein alter Herr gefragt hatte, „Wie haben Sie denn persönlich damals den Mauerfall empfunden?“

„Als Schock“, antwortete ich spontan … als nun mal ehrliche Haut. Der Herr mit DDR-Hintergrund sprang auf und wurde laut: „Wie kann man von so einem wunderbaren Ereignis schockiert sein!“ Seine Empörung wirkte rundum ansteckend, meine holprigen Erläuterungen zu Subkultur und Underground vergrößerten die Begründungsnot: „Wir waren geschockt“, sagte ich, „als das erste Betonsegment am Baukranhaken hing, wussten wir, dass unser Berliner Inselidyll mitsamt der Alternativszene West verloren ginge, das gewohnte Lebensgefühl, das Flair im Eimer, aus, vorbei, furchtbar.“

„Ein wunderbares Ereignis war’s“, wiederholte der empörte Herr, man pflichteten ihm bei – es sah nicht gut aus für mich und die unverstandene Westberliner Alternativszene. Bis uns – was ich nie für möglich gehalten hätte – ein Satz aus Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“ rettete, den eine ältere Zuhörerin aus Bremen rezitierte: „Die Mauer ist gefallen – ach du Scheiße.“ Großes Gelächter im Saal, alles klar.

Das war schlicht ausgedrückt, aber wahr und enthielt die fröhliche Respektlosigkeit eines größeren Teils der hier einfachheitshalber alternativ genannten Szene, die seit den sechziger Jahren die Westsektoren der Halbstadt als belebendes Element entscheidend mitprägte. Spätestens nach dem Mauerbau hatten zehntausende an bürgerlichen Karrieren interessierte Berliner ihre amputierte Heimatstadt verlassen; ihren Platz nahmen daran weniger interessierte Neuankömmlinge ein – mit Pappschildchen begrüßt, 6-Zimmer-Wohnung frei, Pariser Straße, 150 Mark im Monat. Die zu Mauerzeiten niedrig bleibenden Mieten waren die größte Förderung des Nachwuchses von Wissenschaft und Kunst … und einer der Gründe dafür, dass der Strom der Zuzügler, der hier nicht geborenen, gelernten Berliner, von da an nicht mehr abreißen sollte …

Die ältlichen Politparolen wie die vom „Schaufenster des Westens“ oder der Kalte-Kriegs-Slogan vom „Vorposten der Freiheit“ lockten die wenigsten her (auch wenn diese Sprüche nach späterer Sinnverschiebung an Wahrheitsgehalt gewannen). Westberlin versprach mehr als Ruinenchic und Steuerglück, allein der Ortswechsel besaß Bekenntnischarakter. Nach Berlin gehen hieß den Königsweg der Unangepassten nehmen … und dem westlichen Hinterland, den Eltern, dem Barras, dem Spießertum entkommen. Hier spielte eine andere Musik als im CityLife von Osnabrück oder Heilbronn … das Ding glitzerte.

Ein erotisches Ba(r)bylon

Die Nachberlingeher wollten und konnten hier anders leben als sonst wo in der Republik, sie wollten und konnten hier ihre provinziellen Eierschalen verlieren. Sie hofften auf Selbstverwirklichung, den größeren Spielraum, ein erotisches Ba(r)bylon, trafen auf ähnlich Gesinnte und fanden bald zu neuen sozialen Formen, auch in mager ausgerüsteten Altbauten – anspruchslos wohnen, hieß es, doch auf hohem Niveau diskutieren.

Dabei wussten nicht nur Philosophiestudenten, dass es sich beim „Vorposten der Freiheit“ genauso gut um den Vorposten der Unfreiheit handelte – der existenzielle Grundwiderspruch „frei – unfrei“ war ja in die Stadt hineingemauert. Dennoch entstand im Westteil die größte Nische für die, die aus dem bundesdeutschen Leistungs- und Konsumdenken ausscheren und in eine offene oder innere Opposition dazu einsteigen wollten. Die Nachberlingeher schufen hier einen eigenen Kosmos, bildeten Kollektive für allet, besetzten Häuser und Deutungsebenen, gründeten eine Partei, eine tageszeitung und das alles im ewig jugendlichen Gefühl von Vergnügen – auch für Erwachsene. Frage an Radio Eriwan: Aber warum hatten AL/Die Grünen bereits 1978 einen Unternehmerflügel? Antwort: Für schlechte Zeiten.

Die Mauer, lange Top in der politischen Monstrositätenschau, begünstigte sogar die Entstehung der subkulturellen Milieus, der Orte kreativer Entwicklung oder auch des Protests. Die richtigen Leute fanden sich im richtigen Augenblick am richtigen Ort, an der Filmakademie, im Café Mitropa oder in SO 36. Die Folge war ein gleichzeitiger Aufbruch in der über Nacht wild werdenden Malerei, der Neuen Deutschen Musik-Welle, im noch stark ruinenhaltigen Film, der oft aus der Schöneberger Goltzstraße direkt ins ZDF-Programm kam … die Künste profitierten im Niemandsland.

Im begrenzten Raum standen sich die Künstlerkandidaten gegenseitig auf den Füßen, längst lebte hier das subkulturelle Establishment. Wer weniger Ehrgeiz oder sonst wie Defizite hatte, die Mehrheit also, zog als Schwofkünstler um die berühmten Häuser, den „Dschungel“, die „Ruine“ und’s „Risiko“ – eine hoch theatralische Atmosphäre zwischen Treppenwitz und Geistesblitz, die mich stark ansprach: Statt hammern und sicheln lieber jammern und picheln.

Die Alternative Szene West fühlte sich jedenfalls im Schutz der zunehmend breitarschigeren Mauer über Jahre sauwohl – ohne sich von Not und Elend ihrer Schattenseiten groß bekümmern zu lassen … Und die Alternative linke Szene West war sogar ein bisschen enttäuscht von den nach dem Mauerfall einströmenden Massen: Einige hatten gehofft, dass nun ganz, ganz viele allseits entwickelte sozialistische Persönlichkeiten rüberkommen und sich mit ihnen vereinen würden – eine Hoffnung für nur einen Tag.

Auf andere Weise und schon wesentlich früher war mein Freund Rainer von der DDR enttäuscht. Der Geburtsberliner erinnert sich ungern an den 13. August 1961 – als 14-Jähriger hatte er an der Weddinger Wollankstraße seine halb nackte Knabenbrust protestierend von Westberlin über die Luftlinie der Staatsgrenze nach Ostberlin geschoben, während ihm von dort ein NVA-Soldat seine Waffe in den Oberkörper drückte. Der rote Ring des Abdrucks der Gewehrmündung auf der Haut verschwand über Nacht wieder – das Gefühl wütender Ohnmacht gegenüber der Teilung seiner Heimatstadt verflog erst nach 28 Jahren.