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Archiv-Artikel

„Wir brauchen den langen Atem“

Peter Storck

Es gibt viele Gründe, arm zu werden. Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Alter. Dennoch wird Armut als persönliche Niederlage erlebt. Dabei ist es vor allem eine kollektive Niederlage

Eigentlich wollte er Stadtplaner werden und nicht Pfarrer. Es interessierte ihn, woher der Geist der Städte kommt. Das Spirituelle war also schon da. Es hat sich später verdichtet und ihn doch in die Seelsorge geführt. Vor 18 Jahren kam Storck als Pfarrer nach Kreuzberg, dem Stadtteil, den er als experimentellen Schmelztiegel wahrnimmt. Der Bezirk passt zu seinen Überzeugungen. Denn obwohl er sich auch als Bewahrer versteht, bevorzugt er an der christlichen Lehre vor allem die Idee vom Aufbruch. Seit sechs Jahren leitet der 47-Jährige die Kirche Heilig-Kreuz-Passion am Halleschen Tor. Es ist die Kirchenadresse in Sachen Kirchenasyl und Obdachlosigkeit

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Herr Storck, waren Sie schon mal arbeitslos?

Peter Storck: Ja, nach dem Studium. Zudem habe ich lange Teilzeit gearbeitet wegen meiner drei Kinder.

Wie war das?

Wenn ich erwerbslos war, hat mich sofort Unruhe gepackt. Ständig tauchten Fragen auf: Mache ich genug? Falle ich raus? Wie gestalte ich den Tag? Ich habe gemerkt, wie stressig es ist, seinen Tag selber gestalten zu müssen. Man hat viel zu tun. Und doch findet man für das, was man macht, kein Gegenüber. Das ist schwer auszuhalten. Die Erfahrung hilft mir heute bei meiner Arbeit.

Sie sind Pfarrer in der Kirche am Halleschen Tor. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist Obdachlosigkeit. Ist das im Sommer überhaupt ein Thema?

Obdachlosigkeit ist doch keine Frage der Jahreszeit, sondern der Lebensumstände. Im Sommer ist es zwar wärmer, aber keineswegs leichter für die Leute. Natürlich, die Presse will immer nur im Winter kommen.

Warum ist es im Sommer nicht leichter?

Die Probleme sind jeden Tag gleich: Wo kann ich trocken schlafen? Wo kriege ich zu essen? Wie komme ich über den Tag? Wo finde ich einen ruhigen, sicheren Ort? Das Leben auf der Straße ist doch extrem anstrengend. Die Leute sind dem Lärm, der Willkür, den Aggressionen anderer ausgeliefert. Gewalt auf der Straße trifft Obdachlose in hohem Maß. Obdachlose Frauen allemal.

Hat denn die Tatsache, dass Obdachlosigkeit im Sommer sichtbar ist, nicht auch positive Aspekte?

In der Tat leben Obdachlose davon, dass andere ihre Not sehen und sich nicht abwenden. Da geschieht Erstaunliches. Ich kriege immer wieder mit, dass Menschen zum Essen eingeladen werden. Dass ihnen Unterkunft angeboten wird. Dass Leute mit ihnen reden.

Haben Obdachlose also mehr soziale Kontakte auf der Straße als alleine in Wohnungen?

Vielen Menschen, die auf der Straße landen, fallen Begegnungen mit anderen schwer. Deshalb sind sie auch aus den sozialen Netzen rausgefallen. Das Bild der trinkenden Gemeinschaft täuscht. Die meisten Obdachlosen sind Einzelgänger mit psychischen Problemen. Sie können oft kaum kommunizieren.

Warum engagiert sich Ihre Kirchengemeinde so sehr für Arme?

Weil das ein Riesenthema ist. 600.000 Menschen in Berlin leben unter der Armutsgrenze. Es ist eine Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts, dass wir klarmachen: Auch die arme Bevölkerung braucht eine würdige Lebenskultur. Wir wollen das Thema Armut in der Stadt wachhalten. Wir wollen etwas einüben, was nicht eingeübt ist: Dass man als Mensch mit wenig Geld aufrechten Hauptes durchs Leben gehen kann.

Der Arme soll begreifen, dass er nicht schuld an seiner Armut ist?

Es gibt viele Gründe, arm zu werden. Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Alter. Dennoch wird Armut als persönliche Niederlage erlebt. Dabei ist es vor allem eine kollektive Niederlage. Es ist ein Skandal, dass die Gesellschaft zulässt, dass ein großer Teil der Bevölkerung sein Können nicht einbringt. Und mit den Hartz-IV-Gesetzen kommen ganz neue Probleme auf uns zu. So nimmt Obdachlosigkeit auch wieder zu, weil billiger Wohnraum knapp wird. Unsere Gemeinde versteht sich als Kristallisationspunkt, um das deutlich zu machen.

Was haben Sie in die Wege geleitet?

Wir haben mit der Berliner Tafel die Essensausgabe Laib und Seele gegründet. Wir haben einen Treffpunkt für Obdachlose. Daraus ist unser Wohnheim für alte und kranke Obdachlose geworden, ein Beheimatungsprojekt, wo sie alt werden und sterben können. Wir haben ein Gemeindegrab für Obdachlose. Wir haben die Gitschiner Straße 15, eine Kreativzentrum für Arme.

Die Gitschiner Straße 15 ist Ihnen wichtig. Warum?

Das Haus stand lange leer. Der Bezirk überließ meinem Vorgänger Joachim Ritzkowsky das Erdgeschoss. Daraus wurde eine geduldete Besetzung der übrigen Etagen gegen Renovierung. Leider hat der Bezirk das Haus dann in den Liegenschaftsfond gegeben. Wenn ein Investor Interesse hat, wird es verkauft. Wir müssen dem Liegenschaftsfond jeden Monat 2.000 Euro Miete bezahlen. Dabei lebt das Haus ausschließlich von Spenden und von Sachmitteln. Wir hätten jetzt die Chance, das Haus für wenig Geld zu kaufen, brauchen aber noch 25.000 Euro. Die haben wir nicht.

Gibt es im Sommer weniger Spenden, weil die vorweihnachtliche Melancholie fehlt?

Unsere Spenden bekommen wir in der Tat vor allem im Winter und wir brauchen sie dringend. Sonst könnten wir sowas wie die Gitschiner Straße, die ungewöhnliche Dinge anbietet, wie Sprachkurse, Fahrradwerkstatt, Malkurse, den Obdachlosenchor, gar nicht machen.

Brauchen Obdachlose Malkurse?

Das ist die falsche Frage. Die Gitschiner Straße ist so etwas wie eine Volkshochschule für Bedürftige. Die Leute suchen sich die Sachen, die sie machen wollen, schon selbst aus.

Viele der Projekte wurden von dem bereits genannten Pfarrer Ritzkowsky initiiert. Ein zorniger, weltgewandter Mann. Sie wirken dagegen sanft.

Sanft und leidenschaftlich.

Sind das die Eigenschaften, die man braucht, um all das, was in die Wege geleitet wurde, durchzuhalten.

Sicher brauchen wir den langen Atem. Wir müssen vieles ja auch ständig neu und anders denken. Wir versuchen Seelsorge und Protest hier immer wieder neu zu verwirklichen.

Warum Seelsorge und Protest?

Weil hier Menschen zusammenkommen, die etwas teilen wollen mit Menschen in Not. Und weil sie sich nicht zufriedengeben damit, dass die Not so groß ist.

Ist dieser Nimbus des Gutes-tun-Wollens nicht auf eine Art auch penetrant?

Die Bibel gibt uns Mittel an die Hand, Not zu formulieren und zu handeln. Jesaja sagt: Brich mit den Hungrigen dein Brot und die ohne Obdach sind, führe ins Haus. Schütze den Fremdling in deinen Toren. Und Jesus sagt in der Bergpredigt: Selig die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, sie sollen satt werden.

Das nehmen Sie als Handlungsanweisung?

Es ist mehr als das. Es geht um eine Lebenshaltung. Wenn ich die Haltung habe, dass mir, was ich als Fähigkeit und als Besitz habe, von Gott geschenkt ist, dann kann ich, was ich habe, auch leichter teilen. Es gibt sicher auch andere Wege und Begründungszusammenhänge, um Gutes zu tun. Ich erlebe die christliche Begründung aber als schön.

Was fasziniert Sie an den Armen, die hier in die Kirche kommen?

Die Wahrhaftigkeit. Man hat einen direkten Umgang miteinander, kommt gleich zur Sache. Wir müssen natürlich auch umgehen mit Leuten, die nicht nüchtern sind, die riechen.

Die fluchen, die schimpfen?

Ja, aber auch sehr achtsam sind. Ich habe mit Menschen zu tun, die nicht Objekt der Hilfe sein wollen, sondern die einen Ort suchen, wo sie akzeptiert werden.

Welche Rolle spielt die Abwesenheit von Gott? Kann, wer im Dreck liegt, noch glauben, dass das der göttlichen Vorsehung geschuldet ist?

Viele Menschen kommen wegen ihrer Not zu uns und wir missionieren sie nicht. Aber wir thematisieren die Frage nach Gott. Bei uns arbeiten Menschen mit verschiedenster Religion und Weltanschauung. Man muss nicht fromm werden, um sich hier wohlzufühlen. Beim Fest der Obdachlosen, das wir jährlich veranstalten, sind viele, die hier einfach Freude und Gemeinschaft finden wollen. Das Reich Gottes hat auch mit Essen und Trinken zu tun.

Etwas genussunfreudiger gefragt: Passen die kirchliche Soziallehre und der Sozialstaat noch zusammen?

Mir ist die Denkschrift zur Armut der evangelischen Kirche, die kürzlich herausgekommen ist, zu lau. Sie sieht nicht, was alle Untersuchungen sagen: Der Regelsatz für Hartz IV ist zu niedrig. Das erleben wir hier jeden Monat. Da würde ich mir wünschen, dass die Kirche die Realität schärfer beschreibt. Andererseits beruht der Sozialstaat auf dem christlichen Grundverständnis, dass vorhandene Ressourcen geteilt werden. Natürlich darf man nicht unterschätzen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die starke Sicherungssysteme hat. Aber die Regelsätze sind ein Skandal in einer reichen Gesellschaft, die wirtschaftlich jedes Jahr drei Prozent reicher wird.

Was tun Sie, um Ihre Kritik öffentlich zu machen?

Wir machen Armutskonferenzen. Wir äußern uns zu Kinderarmut. Wir setzen uns immer wieder dafür ein, dass Obdachlose nicht aus den Bahnhöfen und privaten Shopping Malls vertrieben werden. Wir thematisieren den Skandal, dass Obdachlose ganz schwer nur an Hartz-IV-Gelder kommen, weil sie die bürokratischen Hürden des Jobcenters gar nicht schaffen können. Wir streiten uns mit den Sozialämtern um würdige Bestattungsfeiern, damit eine Beerdigung nicht zum Sozialverschacher verkommt.

Bekannt ist, dass Sie auch Aktionen zivilen Ungehorsams nicht abgeneigt sind.

Wir sind mit Obdachlosen öffentlich schwarzgefahren, um so für den Erhalt des Sozialtickets zu protestieren. Ziviler Ungehorsam ist nicht um der Methode Willen wichtig, aber wo Menschenwürde und Menschenrechte verletzt werden und das nicht mehr anders in der Gesellschaft Gehör finden kann, halte ich zivilen Ungehorsam für legitim. Kirchenasyl etwa gehört dazu. Ein anderes Beispiel: Wir machen Ausstellungen mit den Bildern, die Obdachlose in der Gitschiner Straße malen. Zwangsläufig sind da Leute dabei, die illegal sind, weil sie keinen Ausweis mehr haben. Wir zeigen diese Ausstellungen auch im Foyer des Polizeipräsidenten. Wir machen damit deutlich: Hier sind Menschen, die wollen sich einbringen, aber sie leben in rechtlosen Zusammenhängen.

Sie testen Grenzen aus?

Was heißt testen? Man darf es nie auf Kosten der Menschen machen. Man muss die Risiken abwägen.

Was Sie machen, erinnert an die südamerikanische Befreiungstheologie.

Am Ende meines Studiums war ich in Mittelamerika und da habe ich verstanden, dass eine Kirche nicht nur eine Kirche für andere ist, sondern eine Kirche der Armen sein kann, in der man das teilt, was man hat. Dadurch entsteht eine ganz andere Form des Gemeindelebens. Diese Erfahrung hilft mir. Damit bin ich hier ganz richtig.