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Archiv-Artikel

„An der EU-Grenze sterben mehr“

Bevor ich mich mit dem Thema Grenzen befasst habe, dachte ich, die innerdeutsche Grenze und die Brutalität, mit der sie bewacht wurde, sei eine Ausnahme gewesen. Dass man dort nur einen Schießbefehl erteilen konnte, weil es kein demokratisches Land war, das von der Mauer umschlossen wurde. Aber an der EU-Außengrenze herrschen erschreckende Zustände, auch ohne Schießbefehl.

Die Zahl der Todesfälle an der Schengengrenze übersteigt schon jetzt die Todeszahlen an der innerdeutschen Grenze um ein Vielfaches. Es gibt keine offiziellen Zahlen, aber als Näherung habe ich Pressemeldungen gesichtet und ausgezählt. Für das Jahr 2004 etwa sind 1.114 Todesfälle an der EU-Grenze dokumentiert. In 28 Jahren deutscher Teilung müssen es wohl knapp 1.400 gewesen sein.

Einen Aufschrei in der europäischen Bevölkerung gibt es trotzdem nicht. Optisch besitzt die moderne EU-Grenze nicht die Monstrosität etwa der Berliner Mauer. Unter einer Grenze stellen wir uns einen spezifischen Ort vor, ein unüberwindbares Bollwerk. Aber die EU-Grenze tritt nicht ausschließlich an einem bestimmten Ort auf – sie materialisiert sich an jedem Bahnhof, an dem Ausweispapiere kontrolliert werden. Für jemanden, der vermeintlich verdächtig aussieht, ist die Grenze jetzt überall.

Die Monstrosität, die die Grenze in ihrem Aussehen verloren hat, gewinnt sie auf andere Weise zurück. Zugleich ist die Grenze nicht vollkommen undurchlässig. Sie funktioniert wie ein Sieb: Es kommen Menschen herein, die auf dem Arbeitsmarkt eine Funktion erfüllen. Einige Hochqualifizierte natürlich – aber auch billige, weil entrechtete Arbeitskräfte, etwa für Schwarzarbeit. Von den an der innerdeutschen Mauer dokumentierten Flüchtlingsschicksalen ist bekannt, welcher Druck auf Menschen lasten muss, damit sie für das Überschreiten einer Landesgrenze wissentlich ihr Leben riskieren.

Heute sind Gründe für den Bau von und die Flucht über Mauern vor allem ökonomische. Und solange es die zugrunde liegenden Wohlstandsunterschiede gibt, ist auch die an der EU-Grenze sichtbare menschliche Not nichts Vergangenes.

Die Probleme an und mit den Grenzen werden auf absehbare Zeit aktuell bleiben, auch lange nach dem Fall der Mauer.

Monika Eigmüller, 35, ist Soziologin an der Uni Leipzig. 2006 hat sie ihre Dissertation über die Grenzsicherungspolitik der EU verfasst.