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Archiv-Artikel

„Es ist möglich“

Der Begriff der Diaspora kann ein Erfolgsmodell sein, sagt der Historiker Tony Judt. Die Möglichkeit der Multiidentität sollte nur allen offenstehen

TONY JUDT ist Geschichtsprofessor an der Universität von New York und Autor von „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“.

INTERVIEW ISOLDE CHARIM

taz: Sie halten in Wien einen Vortrag. Fürchten Sie nicht, er könnte verhindert werden, wie in New York, als ihr mittlerweile legendäres Israel-Referat in letzter Minute abgesagt wurde?

Tony Judt: Nein, denn dies hatte spezifisch amerikanische Gründe. In den USA ist – nicht zuletzt durch die Israel-Lobby – alles, was Israel anlangt, so sensibel und kompliziert, dass es fast unmöglich ist, dieses Thema in die öffentliche Arena zu bringen, ohne einen hohen Grad an Unbehagen zu erzeugen.

Es gibt die großen jüdischen Institutionen wie die Anti-Defamation-League und auf der anderen Seite liberale Juden wie Sie oder die hunderten Unterzeichner des offenen Protestbriefs zur „Judt-Affäre“. Spaltet sich die jüdische Diaspora?

In gewisser Weise ja. Die Israel-Lobby, und diese ist nicht rein jüdisch, sie umfasst auch christliche Gruppen, ist aber eine politische Institution. Sie ist eine politische Pressuregroup wie die Waffen- oder die Öllobby, die nahezu ausschließlich in Washington existiert. Sie ist keine offizielle Repräsentantin der jüdischen Diaspora. Nach wie vor ist die Mehrheit der amerikanischen Juden in politischen Fragen eher liberal als konservativ. Nur in Bezug auf Israel kommt es zu solch einer Spaltung, aber nicht nur als Spaltung innerhalb der Gemeinde, sondern als eine Spaltung des öffentlichen Diskurses.

Muss sich die Diaspora durch das Verhältnis zu einem Territorium, in diesem Fall Israel, definieren?

Ja, das ist ein interessantes Paradoxon. Amerikanische Juden sprechen nicht Jiddisch, auch nicht Hebräisch, sie gehen nicht in die Synagoge, sie sind völlig amerikanisch. Ihr Judentum bestimmt sich durch zwei Momente: durch eine Identität im Raum, das ist die Identifikation mit Israel, selbst für jene, die niemals dort waren. Und durch eine Identität in der Zeit, eine Identifikation mit Auschwitz. Jude sein in Amerika bedeutet, Auschwitz erinnern und Israel unterstützen, weil Israel der beste Schutz vor einem neuen Holocaust ist.

Nur in Amerika?

Jedenfalls ist das sehr spezifisch amerikanisch, auch wenn ein paar französische Intellektuelle versuchen, das zu reproduzieren oder zu importieren.

Wie sollte sich die Diaspora dann definieren? Etwa antizionistisch?

Nein, ich denke nicht, dass sie antizionistisch sein sollte, aber wir können nicht so weitermachen, dass Juden, auch wenn sie österreichische, französische, schwedische oder australische Staatsbürger sind, sich in besonderer Weise mit Israel identifizieren. Denn das bedeutet, dass sie auch mit Israel identifiziert werden, wenn Israel Dinge tut, die antiisraelische, antijüdische Gefühle hervorruft. Auf gewisse Weise produziert die Diaspora den Antisemitismus – durch ihre Weigerung, eine Differenz zwischen sich und dem unabhängigen Staat Israel zu machen. Wir müssen eine Wahl gegen solch eine negative Diaspora treffen. Das bedeutet, dass Juden in Amerika, in England oder in Österreich einen Weg finden müssen, Jude zu sein und Österreicher. Die liberale Geschichte der Diaspora muss eine der Integration sein. Es gibt keinen dritten Weg.

In Ihrem Buch „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ schreiben Sie, dass die Erinnerung an die Schoah die Humanität des heutigen Europas garantiert. An Israel kritisieren Sie aber genau dieses Erinnern.

Eine Serie

Unter dem Titel „Diaspora. Erkundungen eines Lebensmodells. Jenseits von Integration und Parallelgesellschaft“ kuratiert Isolde Charim in den kommenden Monaten eine Veranstaltungsreihe im Wiener Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog. In unregelmäßiger Folge wird die taz Gespräche mit ihren Gästen dokumentieren. Eingeladen sind neben anderen der amerikanischen Politologe Benedict Anderson, der deutsch-türkischen Fernsehmoderator Birand Bingül, der Postkolonialismus-Vordenker Homi K. Bhabha, Diedrich Diederichsen, Hanno Loewy, der Leiter des Jüdischen Museums Hohenems und die amerikanische Soziologin Saskia Sassen.

Sie haben völlig Recht. Willkommen in der Komplexität des Lebens. In Frankreich, Österreich oder Polen ist das Erinnern an die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs absolut zentral für die Identität Europas. Und wenn sie nicht mehr erinnert werden können, müssen sie gelehrt werden. Sie sind das Kernstück unserer kollektiven Identität. Aber in Israel ist dieses Erinnern pervertiert. Dort ist es das wesentliche pädagogische Werkzeug, das Israelis lehrt, sie seien immer Opfer, das Loyalität mit Israel erzeugt – kurz, es ist das, was Israel daran hindert, ein normaler Staat zu werden.

In Ihrem Buch beschreiben Sie auch die Rückkehr des „lebendigen Anderen“ in Form von Migranten und Fremdarbeitern, nachdem dem alten Multikulturalismus 1914 bis ’45 der Garaus gemacht wurde. Sind wir heute besser gewappnet dafür?

Sowohl der holländische Multikulturalismus als auch der Antimultikulturalismus wie etwa der französische Republikanismus sind Modelle, die nicht funktionieren.

Ist also die Diaspora ein gutes Modell für diese Situation?

Es ist ein mögliches Modell unter gewissen Umständen. So ist etwa die Diaspora der Südasiaten in England, abgesehen vom Fundamentalismus einiger Junger, sehr erfolgreich. Da hat man eine Diaspora, die kulturell, sprachlich, familiär, stark an die Herkunftsländern gebunden ist und gleichzeitig Teil des neuen Landes ist. Diese Multiidentität ist entscheidend und fruchtbar. Die Herausforderung besteht nun darin, dass dieses Modell nicht nur für die Eliten funktioniert. Das aber ist ein politisches und kein kulturelles Problem.