: Der XXL-Radiohörer
Was für ein Ohr, was für eine Dramatik: die „Hörtexte“ des Medienkunstpioniers Ferdinand Kriwet
Da hört man diese endlose Folge: „0:0“, „0:0“, „0:0“. Die Bekanntgabe des langweiligsten Fußballspiel-Ergebnisses am Ende eines Spieltages, zusammengeschnitten zu einem akustischen Dokument sportlichen Scheiterns. Das Bedauern der Moderatoren heftet sich wie herber Honig an diese Offenbarungen des Nichts – und man muss über die tragische Komik dieser Collage mindestens schmunzeln. Dann wieder verheißt ein Moderator mit weihevoller Stimme „hehre Kunst“, bekommt allerdings als Erwiderung, durch einen einfachen Tonbandschnitt, die freundliche Belanglosigkeit eines Schlagers. An einem solchen Punkt lässt sich beinahe von einer klassischen Pointe sprechen.
Aber auf Humor hatte Ferdinand Kriwet es nicht abgesehen. „Hörtexte“ nannte der heute in Dresden lebende Künstler seine akustischen Collagen, in denen er die Sprache der Massenmedien zu einer „poetischen Analyse“ verdichtete. Mit Akribie und Eifer sammelte er Ausschnitte aus Radio- und Fernsehsendungen, sezierte und montierte sie zu mehrstimmig-rhythmischen Kompositionen. Sein Blick auf das Material ist zunächst wertfrei, distanziert. Die Dimension des kritischen Kommentars stellte sich eher unbeabsichtigt ein. Jetzt sind seine „Hörtexte“ in einer Dreifach-LP-Box erschienen – auf dem Cover sieht man Kriwet selbst, mit Kopfhörer und Aufnahmegerät in der New Yorker U-Bahn, im Gesicht den Ausdruck melancholischer Entschlossenheit eines jungen Intellektuellen.
Gegenstand seiner zwischen 1960 und 1983 im Auftrag der ARD-Anstalten entstandenen Hörtexte sind die Zeichen des Aktuellen: die Mondlandung, Wahlkämpfe, der Fußball, die Musik und immer wieder das Radio selbst. Kriwet war kein Hasardeur, der auf Zufälle wartete. Für das Stück „Apollo Amerika“ mietete er 1969 in New York zur Mondlandung ein Hotelzimmer und Radio- und Fernsehgeräte, um sich dort für die Epiphanie zu wappnen. Für „Campaign“ sondierte er 1972 gezielt die Fernsehübertragung der demokratischen und republikanischen Wahlkampf-Konvents.
Die Ereignisse selbst treten dabei fast in den Hintergrund. Natürlich beben Neil Armstrongs Schritte auf dem Mond mit der Wucht des Erhabenen, erschaudert man angesichts des niederschmetternden Sieges, den Warlord Richard Nixon am Ende über den Pazifisten George McGovern errang, erfreut man sich an der Poesie der Fußballreporter, die die Athletik des Spiels in ihre Stimme verlagern. Das eigentliche Thema all der Hörtexte aber ist das Diktat ewiger Gegenwart, unter dem die flüchtigen Massenmedien leiden. Greifbar wird das nicht nur in offensichtlichen Momenten wie einer „Jetzt“-Collage aus dem Fundus der Bundesligakonferenz. Vielmehr ist es die notorische Behauptung, dass man als Hörer immer Zeuge des Augenblicks ist, in dem Zukunft in Vergangenheit kippt – sie ist es, die all diese Stücke verbindet.
Prekär, ja nachgerade beängstigend wird dieser Zwang zum ewigen Kairos in „Apollo Amerika“ (1969), wo deutlich wird, wie die US-amerikanischen Medien die Mondlandung zu einem religiösen Ereignis umdeuten. Mit biblischer Rhetorik wird Raumfahrt zu einem spirituellen und patriotischen Unterfangen, während die Radiostimmen den Mythos vom auserwählten Volk beschwören. Gottgleich dröhnt Armstrongs Stimme aus dem All. „Apollo Amerika“ ist, der Distanz des Künstlers zum Trotz, ein Stück Ideologiekritik.
Kriwet war ein Pionier der Medienkunst. Die ästhetische Strategie, der Welt mit dem Blick eines Dokumentars beizukommen, die Gegenwart in ihrer profanen Banalität künstlerisch zu fassen, hat in den Siebzigerjahren Schule gemacht. Von ihrer Schlagkraft haben die Stücke, die jetzt erstmals in einer schallplatten-kompatibel gekürzten Fassung vorliegen, nichts verloren. Nicht wegen der Akribie und der Hingabe, mit der sie realisiert wurden. Nicht wegen des Charmes der Nostalgie, der sich über die historischen Augenblicke und den gepflegt-gediegenen Tonfall der Moderatoren gelegt hat. Aber wegen Kriwets guten Ohrs für Klang, wegen seines außergewöhnlichen Gespürs für Dramatik und seines brillanten Timings. Die enge Freundschaft zu den Komponisten des Kölner Studios für elektronische Musik wird ihm dabei zugute gekommen sein.
Wohlgemerkt: Kriwet ist Schriftsteller. Sein Metier ist die Sprache. Nur dass er nicht Wortgewalt zwischen Buchdeckel pappt. Schrift und gesprochene Sprache finden bei ihm jenseits verlegerischer Konventionen ihren Ausdruck. Das hat sich auch in einer Reihe von Textfilmen, Plakaten und Multimedia-Installationen niedergeschlagen. Die jetzt erschienene Ausgabe zeigt neben den Hörtexten auch sechs „Rundscheiben“-Texte aus den frühen Sechzigerjahren – wirre Lettern und verspielte Wortketten, die auf das weiße Vinyl gedruckt wurden, sodass wer das Akustische an ihnen nicht mögen sollte, die Platten auch an die Wand nageln kann.
Kriwet hat seine künstlerischen Aktivitäten früh eingestellt. Wohl auch, weil sich seine Techniken und seine Sujets allmählich erschöpften. Als einer seiner letzten Hörtexte entstand 1983 „Radio“ – eine Studie über die Vielfalt und die Grenzen, die Stereotype und die Unwiederbringlichkeit der Rundfunkübertragung. Zwischen Soft Cell und Musical Youth sickert verführerisch der Zeitgeist aus diesem Stück heraus. Ein Streichquartett stimmt, Stille, Rascheln, Warten – das Radiogerät räuspert sich. Eine aufgedrehte Stimme kiekst: „What kind of listener are you? Small, medium, or large?“ Im Falle von Ferdinand Kriwet? BJÖRN GOTTSTEIN
Ferdinand Kriwet: „Hörtexte“. Edition RZ, 3-LP-Picture-Disc-Box, 54 €