: „Da und doch so fern“
GEIST Die US-Familientherapeutin Pauline Boss gibt in ihrem Ratgeber Tipps zum liebevollen Umgang mit Demenzkranken in der eigenen Familie
Altersdemenz ist nicht nur für die Erkrankten selbst ein Problem – für die Angehörigen genauso. Sie übernehmen oft jahrelang die Betreuung einer geliebten Person, die zwar körperlich präsent ist, zugleich aber geistig abwesend. Die amerikanische Psychotherapeutin Pauline Boss hat dafür einen treffenden Begriff geprägt: den „ambiguous loss“, einen uneindeutigen, nicht klar einzuordnenden Verlust.
Wie sich so eine Familien- oder Beziehungskonstellation trotz alledem leben lässt, hat Boss in ihrem Buch „Da und doch so fern“ beschrieben.
Der Verlust auf Raten mag ambivalent und schwer zu begreifen sein, der Schmerz von Angehörigen ist oft sehr konkret. Ihnen fehlt die frühere Beziehung, sie reagieren irritiert oder verletzt. Die Herausgeberinnen zitieren eine Angehörige nach einem Vortrag von Pauline Boss in Europa: „Was ich immer noch vermisse, ist eine Umarmung, ein liebes Wort.“ Eine andere ergänzt: „Die Person, die du so geliebt hast und mit der du auch die Sexualität gelebt hast, die gibt es allerdings gar nicht mehr.“ Pauline Boss vergleicht den Verlust mit einer Art „komplizierten Trauer“, die Depressionen und Ängste verursachen kann – und sich im Unterschied zum Verlust von Angehörigen durch einen Todesfall nicht selten über viele Jahre hinzieht.
Der demografische Wandel, so die emeritierte Professorin der University of Minnesota, wird dazu führen, dass von solchen Erfahrungen zukünftig kaum eine Familie verschont bleibe. In den USA gebe es bereits heute mehr als 5,4 Millionen Menschen mit Alzheimer, in Deutschland mehr als 1,4 Millionen. Die „fremde Person zu Hause“ wird dabei in zwei Drittel der Fälle von Frauen betreut – Ehefrauen, Töchtern, Enkelinnen oder Freundinnen. Sie leisten im fortgeschrittenen Stadium Hilfestellung selbst bei scheinbar simplen Aufgaben wie Anziehen, Essen oder Toilettenbesuch.
Um dieses Zusammenleben zu meistern, so Bopp, helfe es nicht, sich psychisch komplett abzuschotten. Im Kapitel „Sieben Richtlinien für die Reise“, dem Kern des Buches, rät die Autorin stattdessen zu einer Mischung aus Empathie und professioneller Distanz sowie zur Bereitschaft, mit den gemischten Gefühlen zu leben. Zudem ermuntert sie ausdrücklich dazu, nach einem Sinn dieser Erfahrung zu suchen, und den Rollenwechsel vom Partner zum Betreuer auch für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen.
Bopp gibt zudem wertvolle Tipps zur Stressreduktion – egal ob es sich um nichtkognitive oder emotionale Bewältigungsstrategien handelt. Eine positive Einstellung, der Glaube, dass man die Herausforderungen meistern könnte, sei auf jeden Fall unverzichtbar. Der wichtigste Ratschlag des Buches hat wohl auch viel mit Bopps Erfahrungen als Familientherapeutin jenseits des Demenzproblems zu tun: Perfektion, so die Autorin, dürfe ohnehin nicht das Ziel der Bemühungen sein, sondern eine „genügend gute Beziehung“. AW
Pauline Boss: „Da und doch so fern. Vom liebevollen Umgang mit Demenzkranken“. Rüffer &Rub 2014, 240 Seiten, 29,80 Euro. www.deutsche-alzheimer.de www.aktion-demenz.de