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Archiv-Artikel

Europas Sündenpfuhl

SKANDAL Im südschwedischen Ransvik gingen Damen und Herren zum ersten Mal gemeinsam baden

Schonen

Anreise: Das relativ kleine Schonen liefert etwa ein Drittel aller landwirtschaftlichen Produkte des Königreichs Schweden. Die ländliche Idylle ergänzen in diesem Teil Schwedens eher Fachwerkhäuser als rote Schwedenhütten. Mit der Fähre ab Rostock nach Trelleborg oder über Gedser und Helsingör (beide Dänemark)/Helsingborg mit Scandlines www.scandlines.com

Unterkunft: Grand Hotel Mölle: www.grand-molle.se; DZ ab 950 SEK. Ferienhäuser: www.novasol.com, www.boiskane.se

Gastronomie: „Ellens Café i Ransvik“: www.ransvik.se, Flickorna Lundgren: www.fl-lundgren.se. Im Restaurant Rut på Skäret (www.rutpaskaret.se) wird Salzhering aus dem Ofen serviert.

Weiterführende Links: www.skane.com, www.visitsweden.de

VON STEFAN ROBERT WEISSENBORN

Mölle – Kornkammer Schwedens? Hört sich nach harter Arbeit an, öder Kulturlandschaft und weniger nach wildem Urwuchs in einem der waldreichsten Länder der Erde. Und tatsächlich: Die Region Schonen im Süden des skandinavischen Landes ist geprägt von geschwungenen Äckern, hohen Hecken und hübschen Ziergärten – Landwirtschaft und Gartenkultur werden großgeschrieben. Die von Menschenhand gemachte Landschaft hat etwas Behütetes. Doch auch Schonen hat seinen rebellischen Teil – auf der felsigen Halbinsel Kullaberg im Nordosten wurde „die schwedische Sünde“ erfunden. Ausgerechnet Monarchen zog das einst an, darunter den deutschen Kaiser Wilhelm II.

In einer geschützten Bucht mit schroffen Klippen nahe dem Fischerdorf Mölle geschah in den Achtzigern des 19. Jahrhunderts etwas zum allerersten Mal – europaweit vielleicht sogar weltweit, wie die Menschen vor Ort überzeugt sind: Männer und Frauen stiegen bei organisierten Gemeinschaftsbädern zum ersten Mal zusammen in die Fluten – am Steinstrand von Ransvik auf der Halbinsel Kullaberg. Unerhört war das damals. „Die schwedische Sünde wurde hier erfunden“, so beschreibt es PR-Verantwortliche für den Tourismus in Schonen, Lena Birgersson. Als äußert verrucht galt die Gegend. Mölle – man wollte es kaum aussprechen, geschweige denn auf Briefe schreiben. Badegäste und Einwohner verleugneten ihre Adresse. Post ließen sie im Nachbarort Arild zustellen. Täglich nahmen die Beschämten insgesamt zwölf Kilometer Fußweg zum Briefkasten in Kauf. Daran änderte auch die stoffreiche Bademode nichts. Die Schwimmer zeigten weniger Haut als mancher Sonnenbadende.

Bald war der Tabubruch ein Geschäft. Kaum eine Imagebroschüre ab den frühen Jahren des vergangenen Jahrhunderts verzichtete darauf, mit der „Badesünde“ zu werben. Seit 2004 betreiben Ellen und Anders Kjellner das schon 1921 eröffnete Café an der berüchtigten Bucht. „Die meisten Gäste kommen wegen der Geschichte“, sagt Ellen. Und es kommen viele.

Als äußert verrucht galt das Fischerdorf Mölle – man wollte es kaum aussprechen

Entlang der Küste führt ein Weg über glitschige Klippen. Aus dem nahen Wald duftet es nach Bärlauch. Im Café brüstet man sich mit hausgemachter Küche mit selbst gesammelten Kräutern. Ob Apfelkuchen oder Herzhaftes – es soll schmecken, wenn der Gast die Schwarz-Weiß-Bilder an den Wänden sieht: Männer und Frauen sind auf den Klippen in Szene gesetzt, die ein paar Meter entfernt heute wie damals vom kalten Wasser des Kattegat umspült werden. Sie tragen die für die Zeit typischen Badeanzüge im Querstreifenmuster. Anzüge wie diese bietet Ellen seit Kurzem zum Verkauf an. Im Winter, wenn die Gäste ausbleiben, schneidert die 60-Jährige Bademode im alten Stil. Die Café-Betreiber denken über Badeaktionen wie anno dazumal nach, als Mölle zum Sündenpfuhl Europas wurde.

Die Geschichte erzählt Ellen selbstredend gern: Studenten aus dem 90 Kilometer entfernten Lund dachten sich die Badeaktion aus, „die mit den Regeln brach“. Die Café-Besitzerin rümpft die Nase: Das war die Reaktion der damals Reaktionären. Zum Pilgerort des Jetsets sollte das verschlafene Mölle dennoch werden. Gesellschaftliche Eliten entdeckten die sündigen Klippen Kullabergs. Schwedens König Oscar II. und sein Sohn Prinz Eugen kreuzten avantgardistisch früh auf: laut Quellen 1886 und 1894 – das geschlechterübergreifende Planschen war schnell hoffähig. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. besuchte Mölle 1907. Und man hob jetzt als Gast in Mölle die Nase, statt sie zu rümpfen.

Aus Dänemark, Deutschland und Frankreich rückten die Walross-Schnauzer-Kavaliere an, die mit „Nymphen“ das Bade zu teilen suchten. Hotels und Pensionen schossen wie Pilze aus dem Boden, wer nicht schnell genug baute, zog in der Saison in den Keller, um Gästen den Vortritt in die Wohnstube zu gewähren. Ellen kramt eine alte Werbebroschüre hervor: „Kullaberg – Nordens Riviera“ wurde 1925 getitelt. Ein anderes Blatt aus ihrem Ordner berichtete vom „Skandal von Ransvik“.

Als mondän gehen heute im Nordwestens Schonen einige Orte durch. Mölle selbst etwa, wo das alte Grand Hotel Mölle noch immer über dem Hafenbecken prangt. Oder Båstad, das Tennismekka Schwedens, wo die Swedish Open stattfinden und Prinzessin Madeleine schon mit täglich wechselnden Hunden spazieren ging, um die Paparazzi zu verwirren. Oder Arild, jene Feigenblattpostadresse von damals, wo viele wohlhabende Schweden mittlerweile ein hübsches Sommerhäuschen unterhalten.

Von überall rückten die Walross-Schnauzer-Kavaliere an, die mit „Nymphen“ das Bade zu teilen suchten

„Bildungsbürger und Kulturbeflissene“ – so beschreibt PR-Frau Birgersson die typische Teilzeitbevölkerung, denn in der Saison verzehnfacht sich so manche Bewohnerzahl. Ein Schwergewicht der Kunstszene lockt tatsächlich die einschlägigen Besucher: Lars Vilks hat hinter den Hügeln im Naturschutzgebiet Kullaberg seine begehbaren Holzskulpturen. Er zog den Zorn manches Fundamentalisten auf sich, weil er Mohammed-Zeichnungen anfertigte.

Ein weiteres schwedenweit bekanntes Schwergewicht findet sich in der Gastroszene. Es ist das Café Flickorna Lundgren in Skäret, mit dem sich eine andere royale Geschichte verbindet. Dort wird die Bestellung „Ein Gedeck bitte, wie es der König so gern hatte“ mit gewisser Herablassung entgegengenommen, zu oft wurde so oder so ähnlich schon geordert, vornehmlich von ergrauten Herrschaften, die die hölzernen Sitzgrüppchen mit der schönen Aussicht aufs Meer täglich busladungsweise einnehmen. Ein mit Pudding gefülltes und Puderzucker bestäubtes Vanilleherz sorgt für königliche Gaumenfreude. Ja, Gustav VI. kreuzte in seinem Lieblingscafé tatsächlich regelmäßig auf – immer dann, wenn er im Sommer auf Schloss Sofiero in Helsingborg residierte. Ob er auch die Bucht von Ransvik einmal besuchte, ist nicht überliefert.