: Freiheit statt Ausbeutung
ARBEIT Welche Kritik am Kapitalismus ist heute noch produktiv? Eine Studie
VON CRISTINA NORD
Im Juni machte sich die Bundesagentur für Arbeit Sorgen. Von 2007 bis 2010, ließ eine Sprecherin verlauten, sei die Zahl der Selbständigen, die auf Hartz IV angewiesen seien, von 50.000 auf 125.000 gestiegen. Die Agentur hielt Missbrauch für wahrscheinlich, schließlich könne jeder Selbständige seine Einkünfte gegenüber dem Finanzamt kleinrechnen. Ein Vorstandsmitglied, Heinrich Alt, forderte schärfere Regelungen. Seltsam war daran nicht nur die Annahme, ein deutsches Finanzamt lasse sich von einem Existenzgründer am Existenzminimum so ohne weiteres bescheißen, seltsam war auch die Vergesslichkeit – ist es doch ein probates Mittel zur Verschönerung der Arbeitslosenstatistik, Erwerbslose in die Selbständigkeit beziehungsweise Freiberuflichkeit zu drängen. Würde nicht entlassen, was das Zeug hält, hätten viele von denen, die sich heute als Selbständige notdürftig über Wasser halten, feste Stellen und verzichteten mit Handkuss auf miese Honorare, mangelnde Mitsprachemöglichkeiten und fehlende soziale Absicherungen.
Der Vorfall führt mitten hinein in die Fragen, die der Band „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“ behandelt. Die Herausgeber, Christoph Menke und Juliane Rebentisch, und die Autoren – unter ihnen Diedrich Diederichsen, René Pollesch, Tom Holert und Alain Ehrenberg – reflektieren darin die Veränderungen des Kapitalismus und überprüfen, welche Formen der Kritik heute produktiv sind. Diese Frage nach den Spielräumen von Kritik gewinnt besondere Brisanz angesichts des Umstands, dass der Kapitalismus sich umso weniger hintergehen lässt, je gefräßiger er sich Kritik einverleibt. Stichwortgeber für den Band sind die französischen Soziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello, die 1999 die Studie „Le nouvel esprit du capitalisme“ vorlegten und Texte zu „Kreation und Depression“ beisteuern. Eine ihrer Thesen lautet, dass sich die Kritik am Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert in zwei Lager teilte: die Sozialkritik rückte Arbeitsbedingungen, Bezahlung, Kranken- und Rentenversicherung in den Mittelpunkt, die Künstlerkritik rieb sich an den einengenden, normativen Seiten, an all dem, was dem Individuum die Freiheit zur Entwicklung nahm.
Neoliberaler Neusprech
Die soziale Marktwirtschaft war die Antwort auf die erste Form der Kritik, auf die zweite Form reagierte das System, indem es sich, wie Chiapello schreibt, in einen „flexiblen Neo-Kapitalismus“ verwandelte. „Die Inkorporation von Themen der ‚Künstlerkritik‘ in den kapitalistischen Diskurs“, fährt sie fort, „ist heute nur zu offensichtlich. Die Management-Literatur wird nicht müde zu erklären, dass Lohnarbeiter mit den Veränderungen der Arbeitswelt zwar ihre Arbeitsplatzsicherheit verloren haben mögen, dafür aber heute kreativere und autonomere Tätigkeiten ausführen, die eine größere Nähe zur Lebensform der Künstler aufweisen.“
All die, die im Call-Center so tun müssen, als seien sie freie Künstler, wissen, was Chiapello meint; sie erleben am eigenen Leibe, wie Unfreiheiten und Zwänge im Neusprech des Neoliberalismus in ihr Gegenteil umgedeutet werden. Damit nicht genug. Weil ihre Tätigkeit ja vorgeblich dazu dient, sie persönlich zu erfüllen, rückt die Frage nach dem Stundenlohn in den Hintergrund. Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth spricht in seinem Text „Organisierte Selbstverwirklichung“ von einem neuen „Anspruchssystem, das es erlaubt, die Beschäftigung von der überzeugenden Präsentation eines Willens zur Selbstverwirklichung in der Arbeit abhänig zu machen; und diese Verkehrung schafft wiederum den legitimatorischen Spielraum, um Deregulierungsmaßnahmen zu rechtfertigen“. Um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, muss man sich also als jemand darstellen, der sich selbst in seiner Tätigkeit verwirklicht. Wozu dann aber Urlaubsgeld, Rentensicherheit und Tariflöhne, wenn die Arbeit doch ein Genuss ist?
Neue Waffen suchen
Was also tun? Ganz sicher nicht nach den alten Ordnungen rufen, schreibt Juliane Rebentisch. Dem Band vorangestellt ist ein kurzer Text von Gilles Deleuze, und der fasst es so: „Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.“ Rebentisch feilt an einer solchen neuen Waffe, indem sie den Begriff der Freiheit gegen seine Vereinnahmung durch den Neoliberalismus schützt. In einer komplexen gedanklichen Operation überprüft sie Hegels Kritik am romantischen Freiheitsbegriff, bevor sie ihr das dialektische Freiheitsverständnis Adornos entgegenstellt. Freiheit, argumentiert Rebentisch, kann es „nur in einem Leben geben, das beide Seiten kennt: wer im Missverständnis solipsistischer Selbsthervorbringung lebt, ist ebenso wenig frei wie einer, dem die Möglichkeit der Distanznahme von sich, von seinen sozialen Rollen und den mit ihnen einhergehenden Erwartungshorizonten fremd ist“. Wer meint, sich losgelöst von jedweder sozialen Praxis selbst erschaffen zu können, ist blind, wer distanzlos in der sozialen Praxis aufgeht, nicht minder. Um zwischen beiden Seiten glücklich zu vermitteln, braucht es einen „Prozess, in dem wir uns und die soziale Praxis, deren Teil wir sind, ändern können“.
Dass man mit Rebentischs nuancierten Gedankenbewegungen der Bundesagentur für Arbeit nicht unmittelbar beikommt, liegt auf der Hand. Die Freiheit, die in der theoretischen Auseinandersetzung entsteht, wegen mangelnder politischer Verwertbarkeit preiszugeben, führt aber erst recht in die Irre.
■ Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.): „Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus“. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2011, 252 Seiten, 19,90 Euro