: „Wir wollen die Wut nicht wegreden“
Als Pädagoge arbeitet Joe Erath, 31, seit sieben Jahren intensiv mit der idealen Zielgruppe des derzeit recht umstrittenen deutschsprachigen Hiphop: den Jungs. Beim Verein Dissens leitet er ein Rap-Projekt und weiß daher genau, wie die Kunst bei den Kids ankommt. Er sagt: „Musik ist kein Boxsack. Sie ist Kommunikation“
JOE ERATH, 31, ist Diplompädagoge und in der Jungenarbeit tätig. U. a. leitet er beim Berliner Verein Dissens e. V., der mit dem Jugendamt in Berlin Marzahn zusammenarbeitet, ein Rap-Projekt. (www.dissens.de)
INTERVIEW HEIDE OESTREICH
taz: Herr Erath, „Katrin hat geschrien vor Schmerz, mir hat’s gefallen“, heißt es im „Arschficksong“ von Sido. Dieser Text wird gern zitiert, wenn es um Sex und Gewalt im deutschen Rap geht. Ist der eigentlich repräsentativ?
Joe Erath: Diesen Text kennen fast alle Jungen. Für eine bestimmte Richtung im Rap ist er repräsentativ. Es gibt aber Texte, die diesen an Brutalität wesentlich übertreffen. Von den Jungen, mit denen ich arbeite, hört etwa ein Drittel diesen Gangsta-Rap. Es gibt aber auch Rapper, die sich von solchen Texten distanzieren.
Bei Ihnen können die Jungen eigene Stücke aufnehmen. Verfassen die ähnliche Texte?
Das gehört für manche Jungen dazu. Wir sagen sehr klar: Sexistische Texte kommen nicht auf unseren Computer. Dann fragen sie: Ey, soll ich etwa Blümchen-Rap machen?
Tja, und dann?
Dann kommen wir in die Diskussion. Es gibt sehr viele, die sagen: Das ist nur ein Song und nicht die Realität. Dann gibt es andere, die annehmen, dass Sexualität so ist und dass die Geschlechterrollen so sind wie in diesen Songs. Sie meinen auch, dass Penisse gigantische Maße haben müssen oder Frauen prinzipiell immer zu haben sind.
Wie sprechen Sie darüber mit den Jungen?
Wir sprechen etwa den Sexismus an. Wir fragen: Stellst du dir so Sexualität vor? Es gibt Jungen, die meinen, gelinde ausgedrückt, man könne Mädchen durchaus zum Sex drängen. Dann fragen wir: Was denkst du denn, wie die Mädchen sich das vorstellen?
Und dann?
Dann kommt oft heraus, dass sie darüber gar nichts wissen und bei uns zum ersten Mal einen geschützten Raum finden, in dem sie solche Fragen erörtern können. Und nach einer gewissen Zeit ändern sich oft die Texte. Dann geht es auch mal um so schwierige Sachen wie Beziehungen oder Gefühle. Einer rappt zum Klimawandel, ein anderer ist „Liebes-Rapper“.
Die Bekehrung zum Blümchen-Rapper kam bei den Kumpels sicher nicht so gut an?
Das Problem ist tatsächlich, dass man für Gangsta-Rap viel Anerkennung bekommt. Wir zeigen den Jungen, dass es auch für anderes Anerkennung geben kann. Das Beste ist natürlich, wenn die dann von einem coolen Rapper kommt, den wir einladen. Wenn etwa der Rapper Mirror sagt: Den Arschficksong kann doch jeder machen, schreibt mal was aus eurem Leben – das bewirkt dann schon viel. Deshalb ist die öffentliche Verurteilung von Rassismus und Sexismus durch Rapper wie die Brothers Keepers sehr wichtig.
Der Arschficksong hat auch ironische Komponenten. Gangsta-Rapper selbst argumentieren oft, dass sie den ganzen Mist, den sie in der Gesellschaft schon vorfinden, eben mal ans Tageslicht bringen. Sind Gangsta-Rapper eigentlich Aufklärer?
Nein, die Themen Geschlechterklischees, Sexismus und Homophobie sind sowieso da, dafür braucht es keinen Gangsta-Rapper. Das sind quasi Trittbrettfahrer, die mit schockierenden Texten Anerkennung suchen und Geld verdienen wollen.
Es gibt die These, diese Musik stumpfe ab gegenüber Gewalt. Sehen Sie das auch so?
Die meisten Jungen können zwischen Musik und Realität gut trennen. In Einzelfällen kann die Musik einen Anteil haben, wenn Jungen gewalttätig werden. Es gibt aber auch Jungen, die eigene Gewalterfahrungen oder erfahrene Ungerechtigkeiten durch die Musik abreagieren.
Die Katharsis-These.
Ja, es gibt beides. Wir wollen in unseren Projekten ja die Wut auch nicht wegreden. Es ist eben nur besser, auf einen Boxsack oder ein Kissen einzuprügeln, als auf einen anderen Menschen. Gewaltfreie Konfliktlösungen werden selten eingeübt, das versuchen wir mit unseren Projekten aufzufangen.
Und was spricht dagegen, Gewaltfantasien in Texten auszuleben, die Musik eben als virtuellen Boxsack zu benutzen?
Musik ist aber kein Boxsack. Sie ist Kommunikation. Und wenn da verbale Gewalt verschleudert wird, kommt die nicht bei einem Boxsack an, sondern bei realen Hörerinnen und Hörern.
Muss man das so ernst nehmen? Viele sagen ja auch: Die sind in der Pubertät, da sind solche Geschlechterklischees und auch Gewaltfantasien normal, das vergeht von allein.
Das „Vergehen“ ist eher ein Verarbeiten, und das hängt sehr stark davon ab, welche Möglichkeiten den Jungen zur Verfügung stehen. Vielen Jungen fehlen heute reale männliche Vorbilder, sodass sie auch verzerrte Männerbilder aus Medien oder eben Raptexten übernehmen. Wenn solche Bilder nicht hinterfragt werden, können sie sich durchaus verfestigen.
Nun gibt es ja Porno, der einvernehmlichen Sex abbildet, der also erst einmal nicht frauenverachtend daherkommt. Dazu können auch Dirty Talk und Sadomaso-Praktiken gehören. Und es gibt Texte wie von Kool Savas: „Gib den Nutten dick Sperma in die Fresse“, da liegt der Verdacht des Sexismus doch recht nahe. Wo ziehen Sie die Grenze?
Grenzen sind zum Beispiel die Abwertung anderer. Da setzen wir uns mit den Jungen auseinander. Wir fragen: Meinst du das wirklich so? Und sagen, dass wir das nicht okay finden. Die Jungs sind oft ambivalent. Manche finden sexistische Texte cool, sind aber zugleich für Gleichberechtigung. Ähnlich ist das bei Gewalt gegen Jungen. Abstrakt wird die immer verurteilt, aber dass Jungen ein gewisses Maß an Gewalt ausleben, ist akzeptiert. Solche Widersprüche bewusst zu machen ist ein großer Teil unserer Arbeit.
Sie haben erwähnt, dass manchen Jungen die Grenze zwischen Sex und sexueller Gewalt nicht so recht klar ist. Kann man die nun durch die Zensur harter Texte schützen?
Wesentlich wichtiger als ein Verbot ist es, Kompetenz zu schaffen. Im Umgang mit Medien, mit Sexualität, mit Konflikten, mit Ängsten. Der Jugendschutz-Index ist aber wichtig, damit bestimmte Bilder und Texte Kindern nicht zur Verfügung stehen. Solche Verbote können zwar Fünfzehnjährige umgehen, aber Zehnjährige haben diese Möglichkeiten meistens noch nicht.
Wie sinnvoll ist es denn überhaupt, Gangsta-Rap in der Öffentlichkeit zu skandalisieren?
Wenn die Jungen jetzt als die asozialen Fans der Gangsta-Rapper abgestempelt werden, also wieder mal die schlimmen Jungs sind, ist das nicht sehr sinnvoll. Aber wenn sich Schulen und Politik darüber Gedanken machen, wie man die Kompetenzen der Kinder stärken kann, was Medien und ihre soziale Identität angeht, dann ist diese Aufmerksamkeit natürlich gut. Das Label Aggro Berlin hat sich übrigens neulich von einzelnen Äußerungen distanziert. Das war eine Reaktion auf den öffentlichen Protest.
Der Stern hat Äußerungen von Psychologen dahin gehend zusammengefasst, dass es eine „sexuelle Verwahrlosung“ von Jugendlichen gebe. Stimmen Sie dem zu?
Ich benutze den Begriff so nicht. Damit haben die Nazis zum Beispiel Prostituierte bezeichnet und ins KZ gebracht. Dazu ist er unscharf. Wenn Eltern vor Kindern gezielt Sex haben und Kinder dazu dienen, die Bedürfnisse Erwachsener zu befriedigen, dann gefährdet das das Kindeswohl. Dann müssen Pädagogen und Jugendämter handeln. Wenn Kinder andere Kinder zu sexuellen Handlungen nötigen, ebenfalls. Aber wenn Kinder generell mehr Wissen über Sexualität haben, ist das an sich noch kein Alarmsignal. Man muss sich dann eben auch früher mit ihnen darüber auseinandersetzen.