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Archiv-Artikel

Mit der Geschwindigkeit von Gedanken

TEXTABENTEUER Der Literaturwissenschaftler Georg Stanitzek gibt der experimentellen Form des Essays wieder Wucht

Statt auf Kulturkritiker wie Frank Schirrmacher setzt Stanitzek lieber auf intelligente Plaudertaschen wie Michael Rutschky

VON EKKEHARD KNÖRER

Bestimmt, Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht“. Das ist das Motto – von Goethe, wem sonst –, das Theodor W. Adorno seinem berühmten Essay „Der Essay als Form“ voranstellt. Soll heißen: Der Essay kommt niemals zuerst, er ist immer nur Zweiter. Darin sah Adorno allerdings seine Stärke: Das Licht als solches sieht keiner, Ursprüngliches ist ästhetischer Mythos. Sekundär sein ist wesentlich.

So weit, so richtig, meinte dazu einst Karl Heinz Bohrer – und trotzdem kulturkonservativ. Adorno sehe im Essayisten zuletzt doch wieder nur den „Deuter von Kunst und Literatur“ und richte in seiner essayistischen Praxis die scheinbar eingerissene Hierarchie von Primär- und Sekundärtext aller Bemühung um Umwertung der Werte zum Trotz gleich wieder auf.

Bohrer dagegen meint, um einen wahren Essay handle es sich dann, wenn „die Wörter die Antriebsgeschwindigkeit von Gedanken bekommen“. Ein anderer Satz im selben Text von 1976, wichtiger noch: „Vielmehr ist ab und an plötzlich zu entdecken, dass diese Passagen und jene Fußnoten in wissenschaftlichen Büchern aufregender, abenteuerlicher wirken als alle jene Belletristik, die eine institutionalisierte Kritik pompös betreut.“

Das geht mit List und Wucht gegen nicht nur damals übliche Begriffe von Literatur. Wenn nämlich, wie Bohrer das sieht, „Plötzlichkeit“ und damit gerade kein geregelter Gang von Argumenten und Sätzen zum Kriterium für die Erkenntnis in/der Literatur wird, fallen die üblichen Gattungsgrenzen wie von selbst.

Und es steht der Essay plötzlich im Zentrum. Das Ungeregelte war ja traditionell seine Form und sein Problem. Aus der griechisch-abendländischen Gattungsordnung, die sich auf die Großkategorien episch, lyrisch, dramatisch kaprizierte, fällt er als bloße, sprachlich in jeder Hinsicht ungebundene Prosa und unreines Zwischending schlicht heraus. Gehört er zur Literatur, zur Wissenschaft oder zur Philosophie? Zu allen, zu keinem davon? Anders gefragt: Wie frei ist der Essay als Form? Und welche Form von Freiheit ist da gemeint?

Von seinen Verächtern werden ihm gern Subjektivismus und Beliebigkeit unterstellt. Die Gebildeten unter ihnen finden ihn im besten Fall geistreich. Seine kulturkonservativen Verehrer erkennen im Essay mit Verweis auf Montaigne emphatisch den Ausdruck exemplarischer Individualität.

Nichts davon unterschreibt der in Siegen lehrende Literaturwissenschaftler Georg Stanitzek, der einst bei Karl Heinz Bohrer (und Reinhart Koselleck und Niklas Luhmann) studiert hat. Sein mächtiger Band mit dem lakonischen Titel „Essay – BRD“ ist ein Wurf und ein Wagnis. Stanitzek schreibt seine Geschichte des Essays (BRD) von Ende der sechziger Jahre bis heute als Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur und ihrer Institutionen. Ein Wagnis, denn: Er überschreitet die etablierten Formen der Disziplin, zwar nur gelegentlich, jedoch systematisch. Stanitzek schreibt selbst essayistisch, und zwar im Bohrer’schen „Plötzlichkeits“-Sinn. Es sind im durchaus akademischen Text tolle Passagen und Fußnoten drin.

Stanitzek tut darüber hinaus, was angesichts des weiten Felds des Essayistischen auch und gerade ein Theoretiker tun muss: Er historisiert, er lokalisiert, er exemplifiziert. Er nimmt Sachen genau. Er nähert sich dem Essay in Deutschland von mehreren Seiten. Mit der simplen Feststellung etwa: Es werden einschlägige Preise verliehen. Er fragt konsequent nach: Wer bekommt sie wofür? Beim Blick auf den wichtigsten von ihnen, den Ernst-Robert-Curtius-Preis, erkennt Stanitzek, der ein luzider Leser jedweder Textsorte ist, wieder und wieder vorkommende Floskeln. Bildung und Gelehrsamkeit sind preisverleihseitig hoch erwünscht. Der Fetisch dabei ist Verständlichkeit. Zeigen, was man weiß, aber keine Überforderung – des Publikums und der Form – und erst recht keine Experimente.

Der Unterschied zur Literatur, als Primäres verstanden, soll gewahrt bleiben. Der Essay als nobler Abstandhalter, als Feuilletonform für ein Publikum mit humanistischem Bildungshintergrund. Preisende und Gepriesene betreiben, das zeigt Stanitzek etwa am gern zur Laudatio geladenen Frank Schirrmacher schön, mit Vorliebe Kulturkritik. Gegen das Fernsehen, das Internet, das Geschwätz der Welt schreibt der Essayist diesen Zuschnitts vom als höher gelegen vorausgesetzten eigenen Standpunkt aus an, auf weder zu intellektuelle noch zu plumpe Weise.

Exemplarisch figuriert für Stanitzek Hans Magnus Enzensberger als raffinierteste Figur des deutschen Gesamtessayisten dann doch genau dieser Art. (Nebenbei: In seiner abgesunkensten Gestalt wird so was dann als panisches Hochkulturgeflenne Aufmacher im Zeit-Feuilleton.)

Sehr gezielt stellt Stanitzek unter der Überschrift „Plaudertasche“ Michael Rutschky gegen diese ganze kulturkritische Schnarchnasenkultur. Plaudertasche ist dabei keineswegs despektierlich gemeint. Rutschky plaudert, so Stanitzek, überaus traditionsbewusst und durchaus gebildet. Weil er jedoch nicht admiriert, Wissen nicht ausstellt und das Geschwätz nicht kulturkritisch auf Abstand bringt, sondern auf listige Weise selbst zur Form macht, unterläuft er die Primär- und Sekundärliteraturdifferenz. Bei Rutschky wird der Essay (BRD) zur hierarchiesprengenden Gattung, weil er mit seinem Status als nicht einzuordnendes Zwischending Ernst macht: als Literatur und Nichtliteratur, nah am Alltag, unscheinbar raffiniert, genau beobachtend, unaufgebläht.

Allerdings hat, wie Stanitzek feststellt, die antiautoritäre Tendenz von Rutschky genau benennbare Grenzen. Man stößt bei ihm auf einen Konservatismus anderer Art. Auch seine Skepsis gilt dem Experiment. Schreibformen, die sich auf weniger ausgestellt zurückgenommene Art nicht einordnen lassen, fallen unters Verdikt des bloß Provokativen. Während der kulturkritisch-konservative Essay das Experimentelle mit Blick auf die Klassiker autoritätshörig ablehnt, verurteilt der in der eigenen Praxis so avanciert durcheinander literatur- und alltagsbeobachtende Essayist Rutschky sie aus der Perspektive kleinbürgerlich anmutender Avantgardismuskritik.

Das ist eine so eigentümliche wie in einem bestimmten, tendenziell linksliberalen Milieu weit verbreitete und selbst ganz schön spießige antimodernistische Wendung. Die Neue Frankfurter Schule von Robert Gernhardt bis (sowieso, genau) Eckhard Henscheid war davon so wenig frei, wie es der als Autor so schätzenswerte Max Goldt ist. Man darf auch gerne Theoriefeindlichkeit dazu sagen.

Zwischen den beiden Fraktionen, den Kulturkonservativen und dem ostentativen Kleinessayismus von Rutschky & Co, von denen Stanitzek mit allem Recht Letztere favorisiert, liegt aber Wesentliches der deutschen Nachkriegsliteratur. Experimentell essayistisch agierende Autorinnen und Autoren nämlich, um Namen zu nennen, die Stanitzek nennt: von Frieda Grafe bis Uwe Nettelbeck und Alexander Kluge, von Kathrin Röggla bis Rembert Hüser und Rainald Goetz, von Oswald Wiener und Herbert Achternbusch bis hin (die Rezensentenpflicht verbietet es, das zu verschweigen) zu den der taz verbundenen Autoren Detlef Kuhlbrodt und Helmut Höge.

Ein Betrieb, der Autoren wie diesen im besten Fall die Randplätze zuweist, hat einen riesigen blinden Fleck. Und dieser blinde Fleck muss weg. Nicht weil alle Texte dieser und vergleichbarer Autorinnen durchweg großartig wären. Sondern weil es Texte sind, die an Grenzen agieren, abenteuerliche Texte, in denen Wörter tatsächlich mit der Antriebsgeschwindigkeit von Gedanken unterwegs sind. Und Texte, das nicht zuletzt, die klipp und klar gegen andere Formen von Literatur stehen.

Was man als Kanonisches kennt oder nicht, hat Folgen für das, was man an anderen Optionen überhaupt ernst nehmen kann. In ödem Relativismus stehen die Dinge heute oft im Feuilleton, als wär’s ein Kaufhausregal, nebeneinander. Dabei ist es doch so: Wenn Herbert Achternbusch, um einen der Vergesseneren zu nehmen, Literatur ist, dann kann Daniel Kehlmann keine sein. Wer versteht, was Jelinek tut, kann über Figuren wie Uwe Tellkamp nur lachen.

Fürs Überschreiten der Grenzen argumentiert Stanitzek in brillanten, oft überraschenden Lektüren. „Essay“ wird in diesem Band unter der Hand so zum weit gefassten Begriff für eine andere Art von Literatur. Als systematisch gemeintes historisches Kapitel liegt darum das dritte, „Wie man einen Essay schreibt: 1970“, im Zentrum des Buchs. Es geht darin um die von Diedrich Diederichsen als „Pop I“ apostrophierte Formation einer ersten deutschen Popliteratur. Was da einst, von Rolf Dieter Brinkmann bis Ror Wolf, an Freiheit und Möglichkeit erreicht war, scheint heute von Frankfurt bis Klagenfurt weithin vergessen. Ausgerechnet die Freude am Experimentieren, also eine dem Prinzip nach fröhlich gegen die Langeweile des Üblichen gerichtete Sache, wird als elitäre Zumutung abgetan und jede ästhetische Zumutung als Unverschämtheit verbucht.

In Zeiten, in denen Konsumierbarkeit – unter dem Namen „Verständlichkeit“ – als Kriterium der Literaturkritik durchgeht, gehört Georg Stanitzeks Essay dringend gelobt und fleißiger noch gelesen.

Georg Stanitzek: „Essay – BRD“. Vorwerk 8, Berlin 2011, 359 Seiten, 24 Euro