Analoges Posten

AUSSTELLUNG Die große Dieter-Roth-Retrospektive im Kunstmuseum Stuttgart richtet den Fokus auf den Sprachkünstler

Roth wirkt wie ein analoger Vorläufer der multimedialen Selbstvergewisserung im Web 2.0

VON CHRISTIAN HILLENGASS

Geschäftiges Weihnachtsmarktreiben auf dem Schlossplatz vor dem Stuttgarter Kunstmuseum. Aus den Buden dringen Adventslieder und Bratwurstdünste, Menschen hetzen Wunschzetteln hinterher, schleppen Tüten, trinken Glühwein, und über allem schweben die Worte: „Balle balle / Knalle / Wann knalln wir / in der Halle? / Wir ballern / wenn der Knaller kommt / Und knallern / was dem Baller frommt! / Knalle Knalle / Balle / So ballerts / in der Halle“. In großen Lettern prangt das Sprachspiel an der hohen Glasfassade des Museums. Dieter Roth (1930 – 1998) hat es es als eine Verballhornung des Kinderliedes „Backe, backe Kuchen“ erdichtet. Drinnen, in der Halle beziehungsweise in den drei geräumigen Stockwerken des Kunstkubus, ballert posthum der Universalkünstler, der getriebene und sich antreibende Mensch Dieter Roth. Museal beruhigt zwar, aber aufgrund eines gelungenen Arrangements von rund 160 Exponaten seiner Kunst immer noch recht lebendig.

Die thematische Konzentration der Schau liegt auf der Sprache. Sie ist die Keim- und Kernzelle von Roths gesamtem künstlerischen Wirken, das sich in konkreter Poesie, sprachlichen Experimenten, Gedichten, Tage- und Künstlerbüchern ausdrückt, dann aber auch in Film, Musik, Performance, Bildern und Objekten seine Formen findet.

„Meine Hauptarbeit ist Bücher schreiben gewesen; nun habe ich Objekte gemacht, damit ich Geld bekomme, denn vom Schreiben konnte ich nicht leben.“ Mit Aussagen dieser Art begründete Roth häufig die Ausweitung seiner Arbeit auf die bildende Kunst. Wie ernst dies auch immer zu nehmen ist, fest steht, dass die Ergänzung des Wortes um das Bild bereits in seinem Werdegang angelegt ist. Das zeigt die Stuttgarter Ausstellung gleich zu Anfang, indem sie die Entwürfe des gelernten Reklamegestalters seinen Arbeiten auf dem Feld der konkreten Poesie gegenüberstellt, die zeitgleich Anfang der 1950er Jahre entstanden.

Mit den Ansätzen der konkreten Poesie löste sich Roth von der rein semantischen Funktion der Schrift, um die visuelle Ästhetik von Worten und Buchstaben hervorzuheben. Aber auch die lautmalerische Wirkung der Sprache beschäftigt ihn. Zwischen den Entwürfen für Bier- und Käsewerbung und seinen gedruckten Buchstaben- und Wortwerken steht ein Fernseher, aus dem heraus Roth bei einer Lesung aus seinen „Scheisse-Gedichten“ den Klang von Sätzen und Worten auskostet und auf die Spitze treibt, indem er ihnen durch ständige Wiederholungen die Sinnhaftigkeit austreibt und allein ihren Klang gelten lässt.

Es ist ein Bloßstellung der Sprache als launisches Medium, die Roth hier betreibt; ein Entlarven als unverlässliches Instrument bei der Ergründung von Dingen und Welt, denn vor allem bei der Frage nach dem „Wer bin ich eigentlich?“ lässt sie ihn immer wieder im Stich. Auch hierin mag ein Grund liegen, weshalb er ihren Rahmen sprengt und sich zur künstlerischen Ich-Ergründung diversen anderen Medien zuwendet. So zum Beispiel mit der großen Videoinstallation „Solo Szenen“ von 1997/98: In 131 festen Kameraperspektiven, verteilt auf ebenso viele Monitore, beobachtet und zeigt sich der Künstler schonungslos in seinem häuslichen Alltag und nimmt damit Reality-TV-Formate wie „Big Brother“ vorweg, die kurze Zeit später erscheinen.

Bereits 1982 hatte er mit seinem Beitrag für den Schweizer Pavillon auf der Biennale in Venedig sein „täglich stattfindendes Gelebe“ mit 30 Projektoren und jeweils 15 Super-8-Filmen auf zwei Wände projiziert. Roth dokumentierte, sammelte und publizierte permanent Privates als Kunst, sei es in Tagebüchern, Polaroidfotos, Postkarten und anderem. Werk und Person sind bei ihm untrennbar. Auf Facebook-Deutsch würde man das heute „posten“ und „liken“ nennen, und in der Tat wirkt Roth damit in vieler Hinsicht wie ein analoger Vorläufer der multimedialen Selbstvergewisserung im Web 2.0. Die Performance des Selbst auf mehreren Kanälen mag Roth in seiner analogen Form bewusster, weil mit einer grundsätzlichen Fragehaltung ausgestattet, betrieben haben. Dennoch sind die Parallelen zur heutigen Selbstbespiegelung im Netz hochinteressant. Gerade das macht den Künstler aktuell und die Ausstellung sehenswert.

Weniger aktuell, aber ebenfalls sehenswert ist Dieter Roth als der Avantgardist, der die Entgrenzung der Kunst noch auf anderen Wegen vorantrieb. Als einer der Ersten verwendete er bis dato kunstfremde Materialien, insbesondere verderbliche Materialien wie Gemüse, Käse, Joghurt und Schokolade. Im Gegensatz zu Beuys zählte für ihn dabei nicht der Symbolgehalt der verwendeten Stoffe, sondern das Prozesshafte, das angestoßene Eigenleben, das unkontrollierbare Werden und Vergehen.

Ein Eigenleben hat auch seine Installation „Große Tischruine“ bekommen, die das ganze obere Stockwerk der Ausstellung ausfüllt. Durch Hinzufügen weiterer Gegenstände bei jeder neuen Ausstellung ist aus dem ursprünglichen Objekt, einem vollgestellten Ateliertisch, eine überbordende Landschaft aus Regalen, Tischen, Gerümpel und sehr vielen alten Bierflaschen entstanden. Ein Werk mit unglaublicher Präsenz. Fast ist es, als könnte der Künstler jederzeit in einer Ecke rumpeln.

■  Bis 12. April 2015, Katalog (Verlag der Buchhandlung Walther König) 29,80 €