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Archiv-Artikel

Die Sehnsucht nach einer magischen Welt

„Warum folgten sie Hitler?“, fragt Stephan Marks in seiner Studie zur Psychologie des Nationalsozialismus. Und er stößt auf allerlei Arten von Scham- und Schuldgefühlen, aber nicht auf Trauer oder Mitleid

Inzwischen sind Berge von Literatur über den Nationalsozialismus geschrieben worden. Und dennoch scheint eine einfache Frage weiterhin unbeantwortet: Wie kam es dazu, dass Millionen von Deutschen sich für Hitler begeisterten, diesen hässlichen Hassredner? Wie war es möglich, dass viele sogar, ihr Überlebensinteresse ignorierend, sich dem „Führer“ opfern wollten?

Der Freiburger Sozialwissenschaftler Stephan Marks hat in seinem neuen Buch, „Warum folgten sie Hitler?“ Die Psychologie des Nationalsozialismus“, interessante Antworten auf diese Frage skizziert. Manche davon sind überraschend, nicht alle überzeugend, aber das ist vielleicht auch der Preis, wenn man tiefenpsychologisches Neuland betritt.

Im Rahmen des Projekts „Geschichte und Erinnerung“ hat Marks’ interdisziplinäre Crew mit 19 Frauen und 24 Männer, die früher begeisterte Nazi-Anhänger waren, Tiefeninterviews geführt. Es ging dabei nicht um repräsentative Befunde, sondern um qualitative Erkenntnisse über ihr Seelenleben. Mit einer mehrstufigen Supervision machte sich das Team zugleich selbst zum Objekt der Beobachtung. Ein auffälliges Ergebnis dieser Supervision waren die starken Gefühle von Verwirrung und Scham, die viele Interviewer in oder nach den Gesprächen überfielen.

Der Autor deutet das als „Gegenübertragung“ und Reaktion auf die offensichtlich unverarbeiteten Emotionen der Befragten, ihre Begeisterung für Hitler, den sie damals als „Erlöser“ sahen, und ihre Schamlosigkeit, mit der sie zum Teil bis heute jede persönliche Verantwortung leugnen und den Juden eine Mitschuld am Holocaust geben.

Die Begeisterung, so Marks, rühre u. a. aus dem „magischen Kult“ der Nazis, der das infantile Bedürfnis ihrer Anhänger nach Regression und Verschmelzung mit der Nation als Mutterleib bedient habe: „Die Nazi-Massenversammlungen, Rituale, Filme, Rundfunksendungen, Ideologie, Musik usw. sprachen die menschliche Lust an, nicht-verantwortlich, klein, kindlich unschuldig zu sein; die Lust, in einer magischen Welt zu leben, in der es Zauberkräfte gibt, Wunder geschehen und in der Größenfantasien wahr werden.“

Eine dieser Größenfantasien war die Erwartung, der „Führer“ werde die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg rückgängig machen, die bei vielen Deutschen wegen der Opfer auch in ihrem Familienkreis unerträgliche Gefühle von Scham und Schuld ausgelöst hatte. Marks erinnert daran, dass in diesem ersten Weltgemetzel rund 13 Millionen deutsche Soldaten gekämpft hatten. Zwei Millionen fielen, elf Millionen waren Kriegsveteranen – damals ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Viele von ihnen waren traumatisiert worden.

Die Nazibewegung war somit ein pathologischer Versuch, dieses Massentrauma zu bewältigen; sie setzte alle Methoden ein, mit denen Trauer, Scham- und Schuldgefühle abgewehrt werden konnten: heroisches Kriegerbewusstsein, Derealisierungen, Idealisierungen, Gefühlskälte, Abspaltung von Schmerz und Trauer.

Dass diese „Seelenwäsche“ (Marks) bis heute weiterwirkt, beweisen schockierende Gesprächspassagen. Ein Interviewter nannte eine von ihm beobachtete Massenerschießung von Russen und Russinnen einen „komischen Anblick“, ein anderer kritisiert, „diese Art (!) von Judenvernichtung“ sei „nicht richtig“ gewesen, denn „die Schuldigen“ säßen „an den Geldquellen in Amerika“, eine Frau lamentierte, die damalige Jugend sei so „anständig“ gewesen, heutzutage wimmle es von Sexualverbrechern und Neonazis (!), die alle „mit Stumpf und Stiel“ ausgerottet gehörten. Auf rund 1.200 Seiten Interview-Transkripten, so Marks, seien „Begriffe wie Trauer, Weinen, Tränen, Schmerz, Mitleid, Empathie oder Mitgefühl so gut wie nicht vorgekommen.“

Weniger überzeugend argumentiert der Autor, wenn er die Nazizeit als Zeit der „hypnotischen Trance“ und als „kollektiven Rauschzustand“ charakterisiert. Erstens betreibt er damit, sicherlich ungewollt, die Entlastung der Täter, denn wer in „Trance“ oder im „Rausch“ handelt, ist nicht schuldfähig. Zweitens bleibt unklar, was genau Marks damit meint – etwa nur die Rituale und Massenaufmärsche? Dann wäre immer wieder genug Zeit zur Ausnüchterung gewesen. Oder die ganzen zwölf Jahre Nationalsozialismus und Krieg? Das kann Marks nicht im Ernst gemeint haben. Zweifellos haben viele Nazis den Krieg als Rausch und Sucht erlebt, aber nicht alle und schon gar nicht die weiblichen.

Trotz dieser Mängel ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Tiefenpsychologie der Nazi-Anhänger. Und ein beunruhigender, denn alle diese verdrängten Gefühle wirken bei den früheren Nazis und ihren Nachkommen weiter.

UTE SCHEUB

Stephan Marks: „‚Warum folgten sie Hitler?‘ Die Psychologie des Nationalsozialismus“. Patmos, Düsseldorf 2007, 220 Seiten, 19,90 Euro