: Wenn Gruftie auf Lolita trifft
PUBERTÄTSKATASTROPHEN In „Lollipop Monster“ erzählt Ziska Rieman sehr manisch, bunt und originell von den Befindlichkeiten junger Frauen. Mit seiner Mischung aus Realfilm, Animation und Musicvideo ist dies ein wirklich junger deutscher Film
VON WILFRIED HIPPEN
Der Film hält sowohl inhaltlich wie auch ästhetisch, was sein Titel verspricht. Zum einen sind seine beiden Heldinnen Arianne und Oona so extrem „die Blonde“ und „die Dunkle“, wie es die Stilformen und Moden der heutigen Jugendmode überhaupt zulassen. Ariane hat sich mit blonden Zöpfen, kurzen Röcken und Schmollmund als eine provokante Lolita stilisiert, Oona hat es sich dagegen möglichst unbequem in den düsteren Fantasien des Gruftiedoms eingerichtet. Und mit ihnen oszilliert auch der Film ständig zwischen manisch und depressiv, laut und leise, bunt und schwarz. Mal sind die Farbwerte über der Norm eingemischt, sodass alles in Bonbonfarben leuchtet, mal sind sie so zurückgenommen, dass das Bild nur einen Blauschimmer vom Schwarzweiß entfernt ist.
Die beiden Teenager verbindet, dass sie in der Schule Außenseiter sind und große Probleme mit ihren Eltern haben. Arianne leidet an ihrem gewalttätigen Bruder, noch mehr aber daran, dass ihre Eltern es sich bequem macht, alles erlauben und nichts verstehen. Oona ist das Kind von Künstlern und wird nicht erst durch den Selbstmord ihres Vaters in eine Tiefe Unsicherheit gestoßen. Die beiden pubertierenden Jugendlichen probieren ihre Grenzen aus, und sie tun dies sehr körperlich – die eine, indem sie ältere Männer sexuell provoziert, die andere, indem sie sich mit Rasierklingen aufritzt.
Die Regisseurin Ziska Rieman ist eine Berliner Comiczeichnerin und so malt sie auch mit der Kamera eine künstliche, schrille, wilde Welt, die wirkt, als sei sie den Fantasien der beiden Protagonistinnen entsprungen. Zieman und ihre Coautorin, die Musikerin Luci van Org, die schon in ihren Popsongs einige Motive aus dem Film verarbeitete, bezeichnen den Film selber als autobiografisch – und auch dies kann man sowohl inhaltlich wie auch stilistisch verstehen. Den sie schöpfen hier hemmungslos aus vielen Quellen der Popkultur. Die animierten Zwischensequenzen erinnern an japanische Mangas, die im Stil eines Musicals eingestreuten Musiknummern sind in der (heute schon fast antiquarischen) Ästhetik von Musicvideos inszeniert und wenn surreale Bilder aus dem alltäglichen Leben erwachsen, hat dabei auch David Lynch ein wenig Pate gestanden. Lehmann wirft all dies fröhlich durcheinander und dennoch zerfällt ihr Film nie zu einem Sammelsurium von Popzitaten.
Denn sie erzählt auch sehr präzise und durchaus mit dramaturgischem Geschick von diesen beiden Mädchen und zeigt, dass sich unter den Stilmasken komplexe Persönlichkeiten mit existentiellen Problemen verbergen. Mit Sarah Horvarth und Jella Haase hat sie zum zwei Hauptdarstellerinnen gefunden, die den Mut und das Talent haben, sich so mutig in die Rollen fallen zu lassen, dass sie jede Szene ohne einen falschen Ton beherrschen. Neben dem Schneid, der dazu gehört, solch ein eigensinniges Debut in der heutigen Filmlandschaft zu machen, beeindruckt, wie radikal Rieman aus den Perspektiven von Ariane und Oona erzählt. Dieser Film scheint so jung zu sein wie seine Heldinnen.