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Archiv-Artikel

Stadt und Auto

In Stuttgart wird das Auto gebaut und geliebt. Wohl deshalb wird den Krachfahrzeugen hier auch so viel Raum eingeräumt: Schneisen durchschneiden die Stadt, überall wird geparkt. Und das sind nur die geringsten Nachteile des Individualverkehrs. Eine Polemik

von Sandro Mattioli

Es fährt Hass mit, jede Menge Hass auf Stuttgarts Straßen. Vor einem Hauseingang im Westen zum Beispiel. Ein Mann geht über die Straße. Zone 40, man muss nicht langsam, darf aber auch nicht schnell fahren hier. Ein Daimler steuert geradewegs auf den Fußgänger zu, ganz so, als wolle er ihn umnieten. Eigentlich müsste der Fahrer leicht abbremsen. Tut er aber nicht. Der ältere Herr im Mercedes dahinter musste nicht bremsen, gar nichts, konnte einfach weiterfahren. Im Vorbeifahren brüllt er: „Du Arschloch, du blöder Depp!“ Das passiert also, wenn man sich als Fußgänger den Vorrang nimmt.

Der Mann, der über die Straße ging, war ich. Auch mit mir ist auf Schritt und Tritt jede Menge Hass unterwegs. Hass, weil Menschen in dicken Autos alleine durch die Gegend fahren und wertvollen Sprit, wertvolle Zukunft vergeuden. Hass, weil Menschen Unsummen in große Autos stecken, die doch den Großteil ihrer Zeit irgendwo stehen – und wertvollen Stadtraum wegnehmen. Hass, weil man dieses Geld für sinnvollere Dinge nutzen könnte. Hass, weil das Automobil zum Goldenen Kalb der Neuzeit geworden ist, und Hass vor allem, weil diese sinnlosen Luxusobjekte in Stuttgart sakrosankt sind.

Dabei fing alles so vielversprechend an.

Was war das für ein Wahnsinnsmoment: Als Bertha Benz vor 123 Jahren von Mannheim aus aufbrach, mit der Benzinkutsche ihres Mannes die automobile Revolution ins Leben zu rufen, war das nicht nur der Aufbruch in ein neues Zeitalter. Es war auch die Geburtsstunde eines Mythos, dass nämlich das Automobil dem Menschen Freiheit bringt. Dieser Mythos war bereits im Namen des neuen Gefährts angelegt: auto-mobil, selbstbewegt. Man war nicht mehr von einem Kutscher oder Schaffner abhängig. Sondern maximal von einer Apotheke, um den Hunger des Motors nach Kraftstoff zu stillen: Bertha Benz konnte die neue Bewegungsfreiheit denn auch erst nach einem Besuch bei einer Arzneihandlung in Wiesloch, der ersten Tankstelle der Welt, weiter ausleben.

Der Individualverkehr heute: eine Kette von Kollektivstaus

Dieser Freiheitsmythos hat bis heute überlebt, dabei gehörte er längst verschrottet. Denn diese sogenannte Freiheit kann man jeden Nachmittag auf den Verkehrsschneisen der Automobilstadt Stuttgart beobachten: lange Staus. Stop and go stadtauswärts. Das Auto ist so ein Symbol für die Unfreiheit geworden. Der Individualverkehr heute: eine Kette von Kollektivstaus.

Nach Gesichtspunkten der Vernunft gehört das Auto mit sofortiger Wirkung verboten. Zahlen unterstützen das: Die Feinstaubwerte wurden in der Stuttgarter Neckarstraße in diesem Jahr bereits mehr als 60 Mal überschritten. Erlaubt von Gesetzes wegen sind Überschreitungen an 35 Tagen pro Jahr. Feinstaub lässt Menschen sterben, es treten mehr Atemwegserkrankungen auf, und die Lungenfunktion leidet unter den mikroskopisch kleinen Partikeln.

700 Millionen Autos fahren derzeit nach Schätzungen auf der Erde umher, doch dabei wird es nicht bleiben. Der Weltwirtschaftsrat für Nachhaltige Entwicklung prognostiziert, dass diese Zahl bis 2050 auf zwei Milliarden Fahrzeuge anwachsen wird. Dabei fällt bereits heute die Hälfte des Rohölverbrauchs auf den Verkehr. Ein Rohstoff, dessen Verknappung schon abzusehen ist.

Das Auto, es versklavt uns langsam, der Verkehr raubt uns wertvolle Ressourcen – Lebensraum, Kraftstoff, Luftreinheit. Und wir opfern ihm jede Menge Leben, Menschenleben: Zwar ging die Zahl der Toten auf den deutschen Straßen im vergangenen Jahr erneut zurück, sogar um volle zwölf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dennoch sterben jeden Tag im Durchschnitt zehn Menschen im Verkehr. Macht mehr als 3.600 Menschen, die fehlen. Der technische Fortschritt hat zwar für sparsamere Autos gesorgt mit weniger schmutzigen Abgasen, für mehr Sicherheit und weniger Tote auf den Straßen. Doch 3.657 Tote auf den Straßen Deutschlands im Jahr 2010 sind 3.657 Tote zu viel.

Es gibt wohl kaum eine Stadt in Deutschland, die vom Autoverkehr so vergewaltigt wird wie Stuttgart. Straßenfluchten sind durch die ohnehin zusammengedrängte Stadt geschlagen, für Parkplätze wird wertvoller Stadtraum in Massen bereitgestellt. Es gibt wohl auch kaum eine Stadt in Deutschland, die sich so bereitwillig vom Autoverkehr vergewaltigen lässt wie Stuttgart. Sind einmal zarte Ansätze zu erkennen, der Wagenflut Einhalt zu gebieten, etwa in Form einer andernorts erfolgreich eingeführten Citymaut, schnellen die Finger der konservativen Fraktion im Gemeinderat nach oben: Einhalt. Und wenn der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine so auf der Hand liegende Wahrheit ausspricht wie die, dass weniger Fahrzeuge besser für die Menschen sind, dann malen manche den Weltuntergang an den Horizont.

Doch warum wird in Stuttgart eigentlich nur ein ungebändigter Automobilverkehr als Wirtschaftsfaktor gesehen und nicht auch die Abwesenheit desselben? Auch das positive ästhetische Erleben einer Stadt ist ein Wirtschaftsfaktor, ein ganz wichtiger sogar: frische Luft, Ruhe, ein gut funktionierender öffentlicher Personennahverkehr. In einer Stadt, in der man gerne lebt, arbeiten Menschen auch gerne.

Sicher, Stuttgart ist abhängig von der Automobilindustrie, von Daimler und Porsche, Bosch und den anderen unzähligen Zulieferbetrieben. Dazu kommen nicht wenige Autotouristen. Daimler und Porsche haben mit ihren Museen Besuchermagnete für sie gebaut. Dagegen ist auch gar nichts zu sagen, schließlich ist es wichtig, die Vergangenheit im Museum zu bewahren, auch beim Automobil. Das Problem ist nur: Wie soll die Zukunft aussehen?

Es gibt Schlagworte wie „demografischer Wandel“, die immer wieder in Diskussionen angeführt werden, auch wenn es um den Verkehr geht. Doch was das Älterwerden der Menschen in diesem Fall bedeutet, ist noch gar nicht richtig abzusehen. Fahrsysteme ermöglichen schon heute Mobilität auch im höheren Alter, und diese Entwicklung wird weitergehen. Aber kann es das Ziel sein, Tattergreise künftig von ihren eigenen Blechbüchsen durch die Gegend kutschieren zu lassen? Oder sollte man nicht ganz grundlegend darüber nachdenken, ob der autobasierte Individualverkehr nicht viel zu sehr gefördert wird? Sollte man nicht eher darüber nachdenken, welche Alternative geschaffen werden könnte?

Erste Gemeinden in Deutschland machen ihren öffentlichen Personennahverkehr bereits jetzt für die Zukunft fit. Im Städtchen Neckarsulm etwa gab es einen massiven Ausbau der Bushaltestellen und Linien. In kleinen Teilorten mit 5.000 Einwohnern gibt es über ein Dutzend Haltestellen. Jeder Mensch im Ort erreicht binnen kürzester Zeit eine Haltestelle. Die Ironie der Geschichte ist: Neckarsulm ist nur so reich und kann sich diesen Ausbau leisten, weil Audi dort seinen zweitgrößten Standort in Deutschland hat und jede Menge Euro in die Stadtkasse zahlt. Dazu garantieren einige Zulieferbetriebe Arbeitsplätze. Dennoch hat man in der Stadtverwaltung erkannt, dass der automobilen Gesellschaft gewaltige Veränderungen ins Haus stehen.

Freilich hat man sich auch in Stuttgart über den Verkehr der Zukunft Gedanken gemacht. Diese Gedanken mündeten in einem dicken Papierstapel: VEK 2030 heißt das Ergebnis abgekürzt, „Verkehrsentwicklungskonzept der Landeshauptstadt Stuttgart“. Im Oktober 2010 wurde ein Entwurf dieses Konzepts ins Internet gestellt, damit sich die Bevölkerung dazu äußern kann – was dann auch so geschah. Verfasst wurde das über 170 Seiten umfassende Konzept von vier Mitarbeitern des Stadtplanungsamtes in der Eberhardstraße. Arne Seyboth ist einer von ihnen.

Auf zwei Drittel von Stuttgarts Straßen gilt Tempo 30

Seyboth – rundlicher Kopf, graue Haare, freundliches Lächeln – ist der Fahrradbeauftragte der Stuttgarter Stadtverwaltung. Es muss eine schwere Aufgabe sein. Vor allem ist er aber der Leiter der Allgemeinen Verkehrsplanung, in seinem Büro hängen eine ganze Reihe von Stadtplänen und Umgebungskarten. Auf einem quadratmetergroßen Plan sind die unterschiedlichen Geschwindigkeitszonen mit verschiedenen Farben eingezeichnet. Es ist überraschend viel Gelb zu sehen, Gelb für Tempo 30. Auf rund zwei Drittel der Straßen in Stuttgart darf die Tachonadel nicht mehr als 30 anzeigen.

Seyboth muss als Verkehrsplaner vor allem eines: mit Schwierigkeiten jonglieren. Nicht nur mit der geistigen Enge bei den Teilen des Gemeinderats, die jeden steuernden Eingriff in den Autoverkehr als Bedrohung für die Wirtschaftskraft wahrnehmen. Sondern auch mit der räumlichen Enge, die im Stuttgarter Talkessel herrscht. „Der Stuttgarter Westen etwa ist extrem dicht besiedelt“, sagt er, „das hat aber nichts mit dem Auto-, sondern dem Städtebau zu tun. Und der war schon vor dem Autobau da.“ Mit den Folgen der engen Bebauung hat Seyboth quasi täglich zu tun: Oft ist in den Stuttgarter Tempo-30-Zonen kein Platz für Bäume, die Straßen werden daher mit bloßem Auge nicht als verkehrsberuhigt erkannt. Ein anderer Straßenbelag, der ebenfalls die Tempo-30-Zone sichtbar macht wie etwa Pflaster, ist weniger haltbar als Asphalt und vor allem lauter, wenn Fahrzeuge drüberrollen. Der Schall schaukelt sich dann zwischen den Häuserwänden hoch.

Auch für abgegrenzte Radwege ist häufig kein Platz in der Stadt, weil die Straßen zu schmal sind. In solchen Fällen bleibt dann lediglich, den Radlern einen extra Bereich auf der Straße zu reservieren. „Stellen Sie sich die Straßen und Gehwege hier einfach mal breiter vor“, sagt er, „dann sieht das schon ganz anders aus.“ So aber beginnen oder enden Radwege im asphaltierten Nichts, so aber müssen Fußgänger alle paar Meter an Ampeln stehen bleiben. So aber ist Stuttgart eine fußgänger- und fahrradfahrerunfreundliche Stadt.

Hier werden Autos gebaut, die hauptsächlich dazu dienen, sich für eine statusversessene Gesellschaft zu stählen. Es mag logisch erscheinen, dass die sozialen Belange des Verkehrs in solch einer Stadt unter den Tisch fallen. Der Automobilindustrie kann man dafür aber nicht die Schuld zuschieben, zumindest nicht nach dem, was der Fahrradfreund Arne Seyboth berichtet. Er habe unlängst vor einer Runde in der Industrie- und Handelskammer vorgetragen, berichtet der Verkehrsplaner von seiner Arbeit. Der ebenfalls am Tisch sitzende Vertreter von Daimler habe am wenigsten Probleme mit seinen Vorstellungen gehabt.