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Archiv-Artikel

Trink, junger Mann, trink!

KLASSIKER Wild und romantisch wollen wir sein: Zum 200. Geburtstag erscheinen viele Bücher von Théophile Gautier auf Deutsch. Es lohnt sich, sie zu lesen

„Die Freiheit führt das Volk“ heißt eines der berühmtesten Gemälde von Eugène Delacroix. Die Freiheit erscheint darauf in Form einer das Volk anführenden schönen Frau mit erhobener Flagge und entblößtem Busen. Delacroix reagierte mit dieser Provokation auf die Julirevolution von 1830. Provokation als Motto schreibt sich auch die junge wie wilde romantische Generation auf die Fahnen. Sie erblickt in dem auf die Revolutionswirren folgenden bieder-bürgerlichen Konformismus eine herbe Enttäuschung.

Einer der Protagonisten dieser Generation ist der am 31. August 1811 nahe den Pyrenäen geborene und in Paris aufgewachsene Schriftsteller und Kritiker Théophile Gautier, der bei der Premiere eines Stückes von Victor Hugo in der Comédie Française einen Skandal herbeiführen kann, weil er einen unschicklichen roten Wams – den gilet rouge – trägt. Jeunes-France nennt man diese entgegen aller herrschenden Gepflogenheiten plötzlich Bart, lange Haare und schrille Kleidung tragende Jugend. Sie „macht“ mit Punkattitüde „den Byron“, das heißt sie begehrt auf und eckt an. Die jungen Romantiker trachten die Gesellschaft ironisch bloßzustellen – wie Gautiers Schulfreund Gérard de Nerval, der auf den hochfrequentierten Flaniermeilen von Paris einen lebenden Hummer an der Leine ausführt.

Der Name Théophile Gautier ist heute bei Weitem nicht so geläufig wie die Namen seiner Freunde Victor Hugo, Gustave Flaubert oder Charles Baudelaire – zu Unrecht. Gegen den Geist der Zweckmäßigkeit, der in den 1830ern herrscht, ist es vor allem Gautier, der die Freiheit und Unabhängigkeit der Kunst fordert: „Wirklich schön ist nur, was keinem Zweck dient; alles Nützliche ist hässlich.“ Der Briefroman „Mademoiselle de Maupin“, dessen Vorwort als Manifest des L’art pour l’art in die Literaturgeschichte eingegangen ist und neben ästhetischen Betrachtungen auch eine scharfe Medienschelte enthält, liegt jetzt bei Manesse in neuer Übersetzung vor. Gautier, der auch als Lyriker Ruhm erlangt, erzählt in seinem bekanntesten Werk von freier Liebe in Künstlerkreisen und der androgynen Rosalinde de Maupin, die in Männerkleidung homo- und heteroerotische Abenteuer auslebt – „Gender Trouble“ im 19. Jahrhundert.

Erstmals auf Deutsch präsentiert der Verlag Matthes & Seitz Gautiers frühe Erzählungen „Die Jeunes-France“, in denen man eine frühe Variante von Popliteratur erblicken kann. Abgesehen davon, dass Gautier darin mit dem Satz „alles ist relativ“ eine Art postmodernes Diktum vorwegnimmt, betreibt er einen mit diskursiven Abschweifungen gekoppelten Oberflächenscan seiner kulturellen Umgebung, wie man es heute von Autoren wie Rainald Goetz oder Thomas Meinecke kennt. Die Mode seiner Zeitgenossen ist das zentrale Thema neben angesagter Kunst, Musik und Literatur. Auch die ausschweifenden Partys in den Salons der späteren Parnassiens finden durch Gautier ihre Würdigung: „Der Jeune-France mag also Musik und trinkt Punsch und berauscht sich: So ist der Typus! Oh! Wie tief, dunkel und salzig ist dieses Leben doch: wie das Meer! Trink, junger Mann, trink immer weiter, trink!“ Texte wie „Die Opiumpfeife“ oder „Der Klub der Haschischesser“ führen diesen Ansatz weiter.

Ebenfalls bei Matthes & Seitz erscheint zum 200. Geburtstag Gautiers auch sein Roman „Avatar“ von 1856, der mit Motiven aus der schwarzen Romantik Ann Radcliffes oder E.T.A. Hoffmanns spielt. Im Kern funktioniert die Handlung von „Avatar“ wie in dem gleichnamigen Hollywood-Film von James Cameron: Es geht um Körpertausch. Mit mesmerischen Methoden, die er in Indien gelernt hat, vollbringt es ein Arzt, die Seele seines an Liebeskummer dahinsiechenden Patienten Octave de Saville in den Körper des Ehemannes seiner Herzensdame zu transportieren. Der Ehemann wiederum erlebt im Körper seines Kontrahenten einen besonderen Albtraum.

Der Begriff „Avatar“ stammt aus dem Sanskrit und bezeichnet die Herabkunft eines Gottes, der sich des Körpers eines Menschen bedient – ein wenig wie in Kleists Komödie „Amphitryon“, an die der ebenso exotische wie fantastische Roman auch erinnert, wenngleich er völlig andere Wendungen nimmt. Mit der Spaltung eines leidenden Ichs aber ist hier bereits ein Leitmotiv der Literatur der Moderne angerissen. Baudelaire hat seinem Freund Gautier seine „Blumen des Bösen“ gewidmet und ihn als „vollkommenen Meister Französischer Dichtung“ bezeichnet. Dem kann man nur beipflichten. Dieser extravagante Autor verdient es, wieder gelesen zu werden. TOBIAS SCHWARTZ

■ Théophile Gautier: „Mademoiselle de Maupin“. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. Manesse, Zürich 2011, 628 Seiten, 24,95 Euro ■ Théophile de Gautier: „Die Jeunes-France. Spöttische Geschichten“. Aus dem Französischen von Melanie Grundmann. Matthes & Seitz, Berlin 2011, 316 Seiten, 22,90 Euro ■ Théophile de Gautier: „Avatar“. Aus dem Französischen von Jörg Alisch. Matthes & Seitz, Berlin 2011, 200 Seiten, 19,90 Euro