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Archiv-Artikel

Die Vierte Welt

Seine Werke spalten die Nation. Für die einen produziert Washington Cucurto pornografischen Müll, die anderen feiern ihn als argentinische Avantgarde

AUS BUENOS AIRES NINA APIN

Washington Cucurto ist der wohl umstrittenste Autor Argentiniens. Seine Literatur, sagt er selbst, sei „wie eine dominikanische Mulattin: heiß und fröhlich“. Verdaulich ist sie nicht für alle. Konservative finden ihn vulgär und untalentiert, für eine wachsende Anzahl von Fans aber ist er der Kultautor einer jungen Generation.

Privat ist der Mann, der auf Buchumschlägen den karibischen Dandy im weißen Anzug gibt, erstaunlich sanft, beinahe schüchtern. Er empfängt im Laden von Eloisa Cartonera, der Verlagskooperative, die sein Herzensprojekt ist. In seiner Freizeitkluft, mit Farbflecken auf der Hose und kernigem Händedruck wirkt der 35-Jährige wie ein Handwerker. „Ach ja, das Interview für Deutschland“, brummt er und räumt zwischen Pappschablonen, Farbtöpfen und Manuskripten einen Stuhl frei. „Aber reden Sie bitte nicht nur mit mir, sondern auch mit den anderen.“

Egal wie sie ihn in den Medien, Literaturhäusern und Studentenzirkeln abfeiern: Hier, in dem kleinen Ladenlokal im schäbigen Viertel La Boca, ist Washington Cucurto nur ein Literaturarbeiter unter vielen, die bunte Bücher aus recycelten Kartons herstellen. 2003 erfanden Cucurto und ein paar Freunde den laut Selbstdarstellung „farbigsten Verlag der Welt“. Eloisa Cartonera ist ein Sozialprojekt: Die Kooperative kauft Karton zu sozialen Preisen direkt von den Cartoneros und verkauft ihnen später die fertigen Bücher.

Argentinien, das ist die Vierte Welt“, sagt Cucurto in der Ladentür der Kooperative und weist auf das Panorama, das sich ringsum bietet: Heruntergekommene Cafés, Straßenverkäufer, ein Mann, der auf dem Gehsteig campiert. „In Südamerika zeigt der Kapitalismus sein hässlichstes Gesicht. Es muss zumindest ein paar Leute geben, die dem etwas entgegensetzen“, sagt er. Wie es ist, auf der Schattenseite der globalisierten Marktwirtschaft zu leben, ist ihm selbst nur zu vertraut: Als Santiago Vega wuchs Cucurto in einem Armenviertel in der Provinz auf. Mit dreizehn zog er in die Stadt, um sich dort allein als Regalauffüller im Supermarkt durchzuschlagen. Erst als er in einer Schreibwerkstatt auf einen Kreis avantgardistischer Jungliteraten stieß, wurde aus ihm der Schriftsteller Washington Cucurto. Das Pseudonym, das ihm seine Freunde verpassten, soll durch die Kombination von englischem Vor- und spanischem Nachnamen wie der eines schwarzen karibischen Sklaven klingen. „Ich bin schwarz“, behauptet Cucurto. „In mir fließt kein spanisches Blut, sondern paraguayisches. Und meine Musik ist nicht der Tango, sondern die Cumbia. So bin ich aufgewachsen, zwischen Dominikanern, Bolivianern, Peruanern.“

Cucurto machte die Welt seiner Kindheit zu seinem literarischen Markenzeichen. Das Leben seiner Figuren spielt sich zwischen Stundenhotels und billigen Spelunken ab. Ficken, Tanzen, Saufen heißen die Grundsäulen der Handlung, die Cucurto mit überdrehter Situationskomik und viel lokalem Slang anreichert. Seine Bücher gaben der vom europafixierten Argentinien ignorierten Unterschicht eine Stimme. 2003, zwei Jahre nach der argentinischen Wirtschaftskrise, als das Selbstbewusstsein der Nation am Boden lag, stürmte die argentinische Mittelschicht die Buchläden, um Cucurtos „Cosa de Negros“ zu kaufen, eine überdrehte Farce um einen sexbesessenen Familienvater und seine Ausschweifungen in der Welt der Cumbia.

Draußen auf den Straßen vervielfachte sich gerade die Zahl der Müllsammler. Auch viele Angehörige der Mittelschicht waren jetzt darunter. Angesichts des eigenen Niedergangs identifizierten sie sich mit dem Leben der Slumbewohner und Migranten.

Bei Eloisa Cartonera ist der Karton gleichzeitig Rohmaterial und ästhetisches Programm. Die Pappen werden direkt von der Straße gekauft, für ein Vielfaches des üblichen Marktpreises. Eloisa Cartonera ist auch ein niedrigschwelliges Angebot, direkt von der Straße in die Welt der Literatur einzusteigen. Zum harten Kern der Aktivisten, die Kartons bemalen oder kopierte Manuskriptseiten von Hand zusammennähen, gehören ehemalige Cartoneros und Arbeitslose.

Die Bücher von Eloisa sind echte Sammlerstücke, die schon ab umgerechnet zwei Euro zu haben sind. Jedes Cover sieht anders aus, von keinem Buch werden mehr als dreihundert Stück hergestellt. In den Buchläden stechen die in schrillen Farben auf Bananen- oder Weinkisten gepinselten Buchcover aus dem publizistischen Einheitsbrei heraus, auch bei Literaturfestivals und Kunstmessen finden sie reißenden Absatz.

„Wir verlegen ein Südamerika, das in den großen Verlagshäusern, Literaturhäusern und Akademien nicht stattfindet“, erklärt Ricardo Piña das Verlagsprogramm: die gewalttätige Drogenprosa des verstorbenen Kolumbianers Andrés Caicedo, Kurzgeschichten aus den Proletenvierteln von Buenos Aires vom Shootingstar Fabián Casas, die verstörenden Textfragmente der jungen Dichterin Cuqui. Was bei Eloisa Cartonera erscheint, ist genauso extravagant wie die Umschläge. Seit 2004 schreibt der Verlag einen Preis für „grenzwertige Neger-Kürzestgeschichten“ aus, dem Sieger winkt eine Veröffentlichung im Eloisa-Cartonera-Stil. Nicht nur der Titel ist eine Provokation des Literaturbetriebs: Die Preisverleihung findet am selben Tag statt wie die des ehrwürdigen Clarin-Preises, mit dem Argentiniens größte Tageszeitung Clarin Schriftsteller macht.

Mit dem bürgerlichen Literaturbetrieb haben wir hier draußen nichts zu tun“, unterstreicht Ricardo Piña, der gerade seinen nächsten Gedichtband am Computer Korrektur liest. Der 43-jährige Dichter ist Autodidakt wie Cucurto, bei einem schweren Unfall hat er eine Sprachstörung davongetragen. „Ich bin nicht gerade für eine klassische Karriere als Literaturstar geeignet“, sagt er sarkastisch und spricht davon, wie dankbar er sei, seine Gedichte bei Eloisa Cartonera veröffentlichen zu können. Piña arbeitet sieben Tage die Woche für den Verlag, er hat hier eine Familie gefunden. Er hält sich mit einer Invalidenrente über Wasser, die schmalen Einkünfte aus den Buchverkäufen teilen die Mitglieder der Kooperative untereinander auf.

Um näher an den lesewilligen Massen zu sein, verlegte Eloisa Cartonera im August seinen Sitz nach La Boca, in das südliche Einwandererviertel im Westen von Buenos Aires. Dort, im Schatten des legendären Fußballstadions „Bombonera“, konkurrieren die Literaten mit dem Fußball, der hier allgegenwärtig ist. Die über und über bunt angemalte Literaturwerkstatt fällt auf im Einerlei von den Farben Rot-Gelb des Vereins Boca Juniors. „No hay cuchillo sin rosas“, „Es gibt keine Messer ohne Rosen“ prangt auf der Glasscheibe. „Selbst aus den schlechtesten Dingen kann etwas Gutes wachsen“, erklärt Cucurto den Namen der Werkstatt.

Ganz ist die Strategie nicht aufgegangen, die meisten Passanten fühlen sich mehr vom Fußball angesprochen als von der Literatur. Immerhin lockt die schrille Fassade mit dem rätselhaften Spruch ab und zu Touristen an, die auf dem nahe gelegenen Caminito dem Ursprung der Tangokultur nachspüren. Eine Holländerin kommt herein und kauft mehrere Exemplare der soeben erschienenen ersten Verlagsanthologie. Zu ihrer Überraschung ist der Text darin zweisprachig, Deutsch und Spanisch. Die Übersetzung ist Resultat der guten Beziehungen, die Cucurto nach Deutschland unterhält: Als ihn die Berliner Volksbühne 1994 einlud, aus seinem jüngsten Gedichtband zu lesen, freundete er sich mit dem Journalisten Timo Berger an, der seinen Gedichtband ins Deutsche übersetzt hat.

„Bei den Deutschen findet unsere Verlagsidee besonders großes Interesse“, erzählt Cucurto. Allerdings verstehe man in Deutschland die Idee hinter Eloisa Cartonera oft falsch. „Es geht uns nicht darum, die Cartoneros von der Straße zu holen“, sagt Cucurto. „Wir sind weder Pfarrer noch Sozialarbeiter. Wir machen Literatur. Jeder muss selbst entscheiden, ob ihm das nützt oder gefällt.“ Ricardo Piña ergänzt: „Ob ein armer Mensch, der schreibt oder liest, besser dran ist als ein armer Mensch, der es nicht tut – das möchten wir nicht beurteilen.“

Die Literaturarbeiter von Eloisa Cartonera eint ein tiefes Misstrauen gegen den bildungsbürgerlichen Glauben an die Kraft der Literatur. Trotzdem sind ihre größten Fans gebildete Mittelklassekids, die aus ästhetischen Gründen auf den wilden Cartonero-Style abfahren. Am größten ist das Dilemma beim Star des Verlags Washington Cucurto, dessen Bücher mittlerweile im Mainstream angekommen sind. Sein jüngstes Werk erschien nicht im hauseigenen Verlag, sondern bei Planeta, der größten Verlagsgruppe der spanischsprachigen Welt. Hat der erklärte Antikapitalist Cucurto seinen Frieden mit der globalisierten Warenwelt gemacht?

„Ich fühle mich ein bisschen wie ein afrikanischer Fußballspieler“, grinst der Literat. Momentan ist er obenauf, seine Mutter sieht ihn im Fernsehen, seine Werke werden in Literaturseminaren diskutiert. Genauso schnell, das weiß er, kann es aber auch wieder vorbei sein mit dem Ruhm. „Dann gehe ich zufrieden wieder zurück in mein schwarzes Viertel. Aber vorher nehme ich noch ein bisschen weiße Kohle mit.“

NINA APIN, Jahrgang 1974, ist Kulturredakteurin der taz Berlin