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■ Vier Leben Italien 2010, R: Michelangelo Frammartino Kann man heute noch so leben? In der abgelegenen italienischen Berglandschaft Kalabrien scheinen die letzten zwei Jahrhunderte kaum etwas verändert zu haben. Es gibt Strom und Autos, aber ansonsten üben die Köhler und Ziegenhirten eines Dorfes ihre Arbeit noch so aus wie ihre Vorfahren im Mittelalter. So zeigt es uns zumindest Michelangelo Frammartino in „Le Quattro Volte“, der im Grunde eher eine Meditation als ein Spielfilm ist, auch wenn er zumindest Spurenteilchen einer Dramaturgie aufweist. Er beginnt wie eine Dokumentation über das tägliche Leben eines Ziegenhirten. Wir sehen, wie er seine Herde über die idyllisch gelegenen Hänge treibt, wie er am Rand des Dorfes in einem spartanisch eingerichteten Zimmer lebt und wie er mit einem schweren Husten zu kämpfen hat. Diesen behandelt er mit Staub aus der Kirche, den die Haushälterin für ihn zusammengekehrt hat, und der als geweiht und somit heilend gilt. Der Hirte verliert seine letzte Ration Staub und dadurch wird eine Kette von Geschehnissen in Gang gesetzt, die Frammartino so ungewöhnlich inszeniert, dass man sich bei einer sehr langen Einstellung, bei der ein Hund, ein Stein und ein Auto eine Rolle spielen, fragt, wie er das wohl so hinbekommen hat. Denn seine Kamera scheint immer nur zu beobachten, und sie sieht auf das Leben.
Allerdings aus der philosophischen Warte von Pythagoras, der im 6. Jahrhundert v. Chr. im heutigen Kalabrien lebte und zwischen den Lebensformen Mensch, Tier, Pflanze und Mineral unterschied. Frammartino folgt dieser Reihenfolge, indem er exemplarisch in vier Abschnitten von dem Ziegenhirten, einem seiner Lämmer, dem Baum, unter dem dieses Schutz sucht und der Holzkohle, in die dessen Holz verwandelt wird, erzählt. Der alte Ziegenhirte stirbt an seinem Husten, das kurze Leben des Lamms sehen wir von der Geburt bis zu seinem für ein Nutztier ungewöhnlich friedlichen Ende (das Schlachten passte Frammartino wohl aus ästhetischen und philosophischen Gründen nicht ins Bild), der Baum ragt majestätisch auf und die Holzkohle knistert im Meiler. Im Stil eines Reigens wechselt er von einem zum anderen und sieht dabei die Natur nicht als hierarchisch an. Dabei wechselt er auch die Perspektiven: während vom Hirten eher in Nahaufnahmen erzählt wird und in einer kurzen Einstellung sogar mit der subjektiven Kamera der letzte Blick des Menschen nachempfunden wird, wird der Baum nur in Totalen gezeigt und die Menschen um ihn herum sind klein – selbst wenn sie ihn als Maibaum erst fällen, dann schmücken und schließlich als Nutzholz verkaufen.
Bis auf ein paar Grüße, Ausrufe und das Eh-hä mit dem der Hirte seine Ziegen antreibt, kommt der Film ganz ohne Worte aus. Dafür nimmt Frammartino sich Zeit, die Reflexionen der Sonne auf den schwebenden Staubteilchen in einer Kirche zu zeigen. Neben der offensichtlichen Schönheit der italienischen Berglandschaft fängt die Kamera auch die Poesie einer Ameise ein, die über ein Gesicht krabbelt. Dies ist einer der seltenen Filme, in die man sich versenken kann.
Der Film läuft Samstag um 15 Uhr und Sonntag um 14 Uhr im Cinema in Bremen