DVDESK
: Tempo ohne Unterlass

Raavanan (Mani Ratnam, Indien 2010). Die DVD ist ab rund 14 Euro im Handel erhältlich

Hirn und Kunstverstand haben hier wenig zu sagen

Wenn über tiefem Abgrund in erhabener Berglandschaft die Hängebrücke an beiden Enden lichterloh brennt; wenn mit dieser Brücke der Held und sein Widersacher nach Kampf in luftiger Höhe Hand in Hand zu Tal stürzen; und zwar vor den Augen der Frau des einen, die inzwischen den anderen zu lieben gelernt hat, der sie doch mit Mordabsichten entführte – dann muss das indisches Kommerzkino sein. Gesetze der Wahrscheinlichkeit gelten hier wenig.

Manches ist bis zum Kampf auf der Brücke geschehen. Von Klippen stürzte sich eindrucksvoll im orangefarbenen Sari Ragini (Aishwarya Rai), gebremst und gerettet von Zweigen im Fall. Seine Frau aus den Händen des Robin-Hood-artigen Schurken Veera zu befreien, eilt deren Ehemann, der Polizist Dev, durch von furchteinflößend bemalten Gestalten bewohnte Wälder herbei. Bei einer üppigst gefeierten Hochzeit fährt, wie man im nachholenden Erzählen erfährt, Schlimmes mit tödlichen Folgen dazwischen. Spektakulär und in Zeitlupe stürzt am Ende ein Mann dann endgültig rückwärts dem Abgrund entgegen.

Die Jeeps und die Waffen und die Hochzeit sind aus der Gegenwart, der Hintergrund der Geschichte ist es nicht. Mani Ratnam hat in aktualisierenden Zügen das große indische Nationalepos Ramayana verfilmt. Die Entführungsgeschichte gibt es in der Vorlage ungefähr ähnlich. Auch Hanuman, der Minister des Affengotts, tritt als Waldhüter auf und sorgt dabei für die obligatorische komische Note. Vieles stammt aus dem Klassiker, erscheint hier aber verzerrt und verschoben. Aus der Feuerprobe auf dem Scheiterhaufen wird so zum Beispiel ein allerdings nicht vollzogener Lügendetektortest.

Eigentlich begreift Ratnam seine Vorlage jedoch vor allem als Lizenz zu in XXL gedrehten einzelnen Szenen. Es mögen, so der jederzeit spürbare Wunsch, der Betrachterin und dem Betrachter doch bitte die Augen übergehen angesichts der mit großem Aufwand auf die Leinwand gezauberten Bilder. Und sie tun es, die Augen, und zwar mit Vergnügen. Wenn die Kamera adlergleich zu Beginn von lichten Höhen aufs Wasser herabstößt. Wenn im Wald die Stämme mit dem Spalier stehenden Hintergrundlicht fast abstrakte Muster zu bilden beginnen. Wenn die Waldgeistarmee tribalistische Tänze in wasserumströmten Ruinen aufführt. Wenn der Hass des einen Mannes auf den anderen Mann sich in Zigarettenglutverstümmelung der Köpfe auf einem Foto entlädt.

Wenn also auf das Erhabene das Alberne, aufs Alberne das Amouröse, auf die Liebe der Krieg, auf den Krieg das von aller Schwerkraft gelöste Fliegen auf Gipfel und von ihnen hinab, wenn dies alles unvermittelt aufeinanderfolgt – dann gehen mit den übergehenden Augen das Hirn und der Kunstverstand zwar nicht in jedem Fall mit. Jedoch haben sie wenig zu sagen, wenn das Herz der Bewunderung voll ist, auch wegen der Kühnheit, mit der Ratnam aufs Ganze geht und über die Stränge schlägt und gut zwei Stunden lang zur treibenden Musik von A. R. Rahman ohne Unterlass Tempo macht.

„Raavanan“ heißt der Film, und er entstammt der indischen Kommerzkinoindustrie; allerdings ist „Bollywood“ in diesem Fall nicht das richtige Wort. Dies ist nämlich die tamilische Fassung eines Films, zu dem Ratnam unter dem Titel „Raavan“ zeitgleich auch eine Version in Hindi für den großen Bruder Bollywood drehte.

Die beiden Filme mit nur zum Teil verschiedenen Darstellern sind einander sehr ähnlich, die Unterscheide im Detail wie in der Interpretation der Titelfigur aber interessant. Wer vergleichen will, wird beim Hindi-Geschwister derzeit noch nicht auf dem deutschen Markt fündig. Fürs Erste ist man aber mit „Raavanan“ bestens bedient.

EKKEHARD KNÖRER