: Aufregend reisen ohne Plan
HERUMKOMMEN Angesichts unserer modernen Mobilitätsroutine machen Jules Vernes Bücher wehmütig. Doch auch Phileas Fogg war ein Sesselpupser. – Ein Plädoyer für Mut zu mehr Unvorhersehbarkeit
In der Ausstellung „In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code“ werden Geschichte und Geschichten der Globalisierung lebendig. Auf den Spuren von Vernes berühmtem Roman um die abenteuerliche Reise von Phileas Fogg und Passepartout bittet das Museum für Kommunikation zu einer Entdeckungsreise um den Globus und durch die Zeit. Besucherinnen und Besucher können 80 Gegenstände bestaunen, anhand deren die Reise um die Erde nachgezeichnet wird. Sie treffen auf Fundstücke wie einen Reiseschreibtisch, Gehstock mit integriertem Kompass und ein Stück des Unterseekabels, das Europa mit Amerika auf einer Länge von 3.000 Kilometern verband. Zudem erzählen weitere Exponate von der Vermessung, Vernetzung und Beschleunigung der Welt und berichten von der Begegnung Europas mit fremden Ländern und Kulturen.
■ In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code: Museum für Kommunikation, Leipziger Straße 16, Di 9–20 Uhr, Mi–Fr 9–17 Uhr, Sa + So 10–18 Uhr, Eintritt 4/2 Euro, Kinder bis 17 frei, Katalog 19,90 Euro
VON INGO AREND
„Außergewöhnliche Reisen“ – so etwas würde man doch gern mal wieder unternehmen, nicht? Wer den Titel der Buchreihe kennt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts Jules Vernes erste Bücher erschienen, den befallen wehmütige Gefühle: Bei vielen liegt die letzte Reise, auf die das Adjektiv „außergewöhnlich“ passen könnte, lange zurück. Die Bahncard-Exkursionen nach Hamburg, die Wochenend-Trips nach Venedig oder Rom, die hektischen Dreieinhalb-Tages-Reisen zu Kulturevents rund um den Globus oder die Weihnachtsbesuche in Frankfurt zählen nicht wirklich dazu. Zugegeben: Der Ausflug zum Grand Canyon in Arizona vor zehn Jahren war schon großartig. Aber war er wirklich außergewöhnlich?
Außergewöhnlich, außergewöhnlich … – was könnte das sein? Reinhold Messners Extremtrips zählen nicht dazu. Das sind eher Durchhalteübungen, für die der Himalaja, die Antarktis oder die Wüste Gobi nur die grandiose Kulisse abgeben. Ansonsten ist Reisen heute ein Routinevorgang, eine fast lautlos absolvierte Mobilitäts-Performance, bei der einem das Aufregende, das es irgendwann einmal bedeutet haben mag, nahezu verloren geht. Der Reisende von heute steigt in den Flieger, betrachtet benebelt den langsam vorrückenden grünen Pfeil auf dem Bildschirm, der seinen Standort auf dem Globus anzeigt. Er schüttelt sich vielleicht einen Tag lang in der Stadt, in der er ankommt. Weil alles noch ein bisschen neu, anders, irgendwie verschoben, heller, bunter oder dunkler ist.
Um die Ghettos an der Peripherie hat der Shuttlebus vom Flughafen einen Bogen gemacht. Spätestens wenn der Reisende seine Kreditkarte in den Schlitz irgendeines Geldautomaten in einer überfüllten Fußgängerzone schiebt, weiß er, dass ihm nichts „Außergewöhnliches“ passieren wird. Es sei denn, er wird ausgeraubt, entführt, enthauptet. Oder das Mitglied der Generation Easy-Jet findet statt des angesagten Clubs, für den er den Flieger enterte, plötzlich ein Flüchtlingslager oder ein Penthouse vor. Womöglich zieht er sich dann sogar entgeistert die Stöpsel aus dem Ohr.
Reiselust ist nicht zwingend mit Erfahrungshunger gleichzusetzen. Wer auf der Suche nach diesem seltenen Rohstoff in der Ausstellung „In 80 Dingen um die Welt“ des Berliner Museums für Kommunikation fündig zu werden glaubt, dürfte enttäuscht von dannen ziehen. Bekanntlich wollte nämlich Phileas Fogg, der schrullige Engländer, der in Jules Vernes berühmtem Roman „In achtzig Tagen um die Welt“ im Londoner Reform-Club eine der berühmtesten Wetten der Fiktionsgeschichte abschließt, keineswegs seinen Horizont erweitern oder „außergewöhnliche“ Abenteuer erleben.
„Hatte er Reisen gemacht?“, fragt sich der Erzähler des Romans. „Höchstwahrscheinlich. Denn niemand kannte sich auf der Weltkarte besser aus als er.“ Da Phileas Fogg jedoch London seit vielen Jahren nicht mehr verlassen hat, kommt er zu dem Schluss: „Dieser Mann schien die ganze Welt bereist zu haben, zumindest im Geiste.“ Fogg war ein „armchair traveler“. Der bourgeoise Müßiggänger wollte eigentlich nur beweisen, dass der Morning Chronicle recht hatte mit seiner Kalkulation, dass man die Erdumrundung mit den damals gängigen öffentlichen Verkehrsmitteln in 80 Tagen schaffen könnte. Für ihn war seine berühmte „Le Tour du monde“ nur eine Art Nachvollzug einer intellektuellen Rechenübung. Er wollte sehen, ob man den exakten Zeitplan einhalten kann.
So viel anders ist das heute nicht. Mit der exzessiven Sichtung von Google Earth und der Lektüre des „Lonely Planet“ lässt sich jede Reise so gut vorbereiten, dass garantiert nichts Außergewöhnliches passieren wird. Damals gab es den „allwissenden Bradshaw“. Immer dann, wenn es kompliziert wurde, blätterte auch Phileas Fogg in dem legendären grauen Reiseführer. Wer „außergewöhnliche Reisen“ machen will, müsste also in erster Linie die Idee der Welt als Lektüre hinter sich lassen, für die Jules Vernes Romanfigur steht.
Dafür ist es nicht zwingend notwendig, Beschwernisse auf sich zu nehmen wie die Reisenden vor vierhundert Jahren in Japan. Zu dieser Zeit gab es nur selten Brücken. Deswegen musste, wer sich auf den „Tokaido“-Pfad begab, die 500 Kilometer lange Küstenstraße, die die Hauptstadt Edo mit der alten Kaiserresidenz Kyoto verband, an vielen der 53 Raststationen von Trägern durch die Fluten des Flusses Oi getragen werden.
Wer das „Außergewöhnliche“ als das Unvorhersehbare erleben will, muss auch nicht die ganz große Weltreise antreten. Eine Ballonreise wie die, die Phileas Fogg immer angedichtet wird, die er aber tatsächlich nie unternommen hat, würde schon reichen. Da weiß man oft nicht, wo man am Ende ankommt.