: Mütter in Dagestan wollen ihre Söhne zurück
Mit Protesten und Hungerstreiks machen Frauen auf das Schicksal ihrer verschwundenen Angehörigen aufmerksam
BERLIN taz ■ Ab heute muss sich der 42-jährige dagestanische Menschenrechtler Ismail Butaew von der russlandweit agierenden „Bewegung für Menschenrechte“ vor einem Gericht in Machatschkala, der Hauptstadt Dagestans, wegen Widerstands gegen die Miliz und Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration verantworten. Butaew war am 10. August festgenommen worden, weil er sich an einer Aktion der „Mütter Dagestans“, die gegen die Verschleppung ihrer Söhne protestierten, beteiligt hatte. Zwei Tage nach seiner Verhaftung war er nach Protesten aus Moskau und dem Ausland wieder auf freien Fuß gesetzt worden.
Brutal hatte die Polizei Dagestans, einer Nachbarrepublik zu Tschetschenien, am vergangenen Freitag eine kleine Demonstration von Angehörigen Vermisster aufgelöst. Gülnara Rustamowa, eine der beiden Sprecherinnen der „Mütter Dagestans“ sagte der taz, sie sei dabei so schwer geschlagen worden, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden musste.
Rund 30 Frauen protestierten in Machatschkala vor dem Regierungsgebäude gegen die Untätigkeit der Behörden bei der Suche nach ihren vermissten Söhnen. Die Mütter wollen wissen, was mit ihren 22 Söhnen geschehen ist, die in den letzten Monaten in der Kaukasusrepublik verschwunden waren. Übereinstimmend berichten die Demonstrantinnen, dass ihre Angehörigen von unbekannten Personen in Kampfanzügen verschleppt worden waren. Die Mütter gehen davon aus, dass die Entführungen auf das Konto der Geheimdienste gehen.
„Wir standen nur auf der Straße und hielten Plakate und Fotos unserer vermissten Angehörigen hoch. Wir wollten, dass jemand aus der Regierung zu uns kommt. Stattdessen traten uns die Milizionäre und schlugen uns mit Schlagstöcken. Drei junge Männer wurden sofort abgeführt. Nur einer von ihnen hatte sich an der Demonstration beteiligt. Die anderen beiden waren Passanten“, berichtet Swetlana Isajewa, Sprecherin der „Mütter Dagestans“, in einem Interview mit „Echo Moskau“.
Auch Swetlana Isajewa war in der vergangenen Woche unter den Demonstranten. Am 26. April dieses Jahres verschwand ihr 25-jähriger Sohn Isa Isajew. Ein Anrufer hatte ihn morgens um drei Uhr mit einem Telefonat aus dem Haus gelockt. Wenige Stunden später registrierten Mutter und Bruder einen Versuch von Isa, sie auf deren Mobiltelefon zu erreichen. Das war das letzte Lebenszeichen.
In der Folge schloss sich Swetlana Isajewa mit anderen Müttern zusammen, die ebenfalls ihre Söhne vermissen. Am 10. Juni wurden Frau Isajewa und drei weitere Mütter vom Leiter der Abteilung „Terrorismus und Entführungen“, Imammutdin Temirbulatow, im dagestanischen Innenministerium empfangen. Die Vermissten, so Temirbulatow, seien offensichtlich von der 6. Abteilung festgenommen worden. Die Mütter sollten ihm Fotos der Vermissten überbringen, die er an die 6. Abteilung mit der Bitte übermitteln werde, ihn über den Aufenthaltsort der Vermissten zu informieren.
Einen Monat später, so die Mutter, habe ihr ein Politiker des Sicherheitsrates der Republik Dagestan mitgeteilt, ihr Sohn sei offensichtlich in Gudermes in Tschetschenien inhaftiert, wo man gegen ihn ermittle. Doch bis heute hat Swetlana Isajewa kein weiteres Lebenszeichen ihres Sohnes erhalten.
Am 7. August reiste eine Abordnung der „Mütter Dagestans“ nach Tschetschenien, wo sie in einem Untersuchungsgefängnis von Grosny nach den Verschleppten suchten. Doch viele Zellen waren leer, in anderen saßen aus Tschetschenien stammende Gefangene. Einigen Zellen habe man jedoch angesehen, so Swetlana Isajewa, dass die Insassen erst kurz vor dem Eintreffen der Frauen abgeführt worden waren.
Aufgeben wollen die „Mütter Dagestans“ nicht.Vorerst wollen sie jeden Tag mit Forderungen wie „Stoppt die Verschleppungen!“, „Gebt uns unsere Söhne zurück!“ in zwei Kleingruppen demonstrieren. Eine Gruppe wird ständig am zentralen Platz präsent sein. Die Teilnehmerinnen werden mehrere Meter voneinander entfernt stehen. Dadurch, so Gülnara Rustamowa gegenüber der taz, könne man auch ohne Genehmigung demonstrieren. Eine zweite Gruppe von sechs Frauen protestiert an einem anderen Ort bereits seit über zwei Wochen mit einem Hungerstreik.
„Unsere Forderungen an die Regierung sind ganz einfach“, sagt die 39-jährige Schneiderin Gülnara Rustamowa. „Wir wollen unsere Söhne und Männer zurück, wollen, dass die Verschleppungen endlich aufhören. Viele von unseren Frauen stehen nach der Gewalt bei den letzten Protestkundgebungen unter großem Druck, die meisten von ihnen sind 50 und 60 Jahre alt. Doch wir machen weiter. Das höchste Gut ist doch das Leben, und nicht einmal das Recht darauf ist uns garantiert.“, so Gülnara Rustamowa.
BERNHARD CLASEN