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Archiv-Artikel

Wo die Antike auflebt

In Südfrankreich hat das Römertum eine erstaunliche Renaissance. Es wird in der Erde gegraben, in der Erinnerung geforscht. Eine manchmal skurrile Reise in die antike Vergangenheit Frankreichs

Via Domita

Beaucaire lässt sich von Nîmes, Arles oder Avignon in knapp 45 Minuten per Auto oder Bus erreichen ot-beaucaire.fr Zur Via Domitia, mit zahlreichen Anregungen für Besichtigungen viadomitia.org Forum Ugernum, Rue des anciens combattants – Espace Daudet, 30300 Beaucaire Tel : (00 33) (0) 4 66 20 27 76 acta-archeo.com Le Mas des Tourelles, Vins archéologiques romains und andere Spezialitäten, 4294, route de Saint Gilles (RD 38), 30300 Beaucaire Tel: (00 33) (0) 4 66 59 19 72 tourelles.com Hôtel Les Doctrinaires, schön am Hafen von Beaucaire gelegen, mit ausgezeichnetem Restaurant hoteldoctrinaires.com Bed & Breakfast, Domaine des Clos, wunderschönes, altes provenzalisches Haus auf großem Grundstück mit Pool domaine-des-clos.com

VON MARIE URDIALES

„Advokate! Impugnate!“ Leicht bekleidet und schwer bewaffnet betreten zwei junge, muskulöse Männer die kleine Arena. Um die schlanken Hüften tragen sie ein Baumwollröckchen, das irgendwie an Omis in die Jahre gekommenes Geschirrtuch erinnert. Waden und Füße stecken in derber, auf geheimnisvolle Weise gehaltener Fußkleidung, ein Zwischending zwischen Reitstiefel und antiken Badelatschen. Auf den Köpfen imposante Helme, die Augen sind kaum zu sehen, dafür verleiht das Eisen ihrer schweren Atmung ein recht lautes, fast unheimliches Echo. In einer Hand tragen sie ein riesiges, schweres Schild, in der anderen ein kleines Schwert. Der Schiedsrichter, daran erkennbar, dass er zwar keinen Helm, dafür aber ein knappes Kleidchen trägt, gibt das Signal zum Kampf. Die Gladiatoren stürzen aufeinander, die Schilder und Waffen knallen, die nackten Schulter färben sich bald rötlich, der Atem, der sich durch die Anstrengung und das Gewicht von Helm und Schild schnell in ein seltsames Röcheln steigert, wird nun richtig unheimlich. Auf den Zuschauerbänken herrscht Totenstille, alles starrt auf die Kämpfer, die Frauen umklammern ihre Handtäschchen.

„Ludi Romani“ stand auf dem kleinen Plakat in Beaucaires, einem kleinen Ort unweit von Arles, das in die Arena lockte. „Eigentlich komme ich aus dem Kampfsport“, erklärt der Schiedsrichter Brice Lopez nach dem Kampf. Er ist der Investigator dieser seltsamen Spiele. „Vor ein paar Jahren sind Forscher an mich herangetreten. Sie wollten mit meiner Hilfe herausfinden, wie antike Spiele damals tatsächlich aussahen. Anhand von Aufzeichnungen und Bildern haben wir versucht, alle sportlichen Disziplinen der Antike nachzustellen.“ „Experimentelle Archäologie“ heißt das. Und daran fand er so viel Spaß, dass er das Forum Ugernum eröffnete. Ein Ort, an dem man bis ins letzte Detail alles über das Leben in der Antike erfahren kann. Wie wurde geschrieben, womit wurde gekocht, wie wurden Schilder und Waffen hergestellt. In verschiedenen Ateliers können Kinder und Erwachsene sich kundig machen. „Sogar die Helme machen wir hier selbst“, erklärt Dominus Brice. Mit seinem Team empfängt er – alle immer adrett in Baumwolltüchlein gewickelt – Gruppen, Schulklassen und Besucher aus der ganzen Welt.

Wäre das Forum Ugernum eine vereinzelte Initiative, römisches „Savoir-vivre“ auf gallischem Boden wiederaufleben zu lassen, hätte dies zwar durchaus wissenschaftlichen, aber doch eher anekdotischen Charakter. Doch was die antike Stadt Arles schon lange kann, nämlich die Spuren der Geschichte touristisch zu nutzen, praktiziert die Gegend um Arles inzwischen immer intensiver.

Tatsächlich haben die Römer vor mehr als zwei Jahrtausenden die Gegend geprägt. Der damals noch wilde und unsichere Landstrich zwischen den heutigen Städten Marseille und Perpignan lag so günstig zwischen Rom und den iberischen Kolonien, dass Bauherren etwa ein Jahrhundert v. Chr. begannen, die Via Domitia, die erste römische Straße außerhalb Roms, zu bauen. Ganze Städte wurden im Laufe der Jahre gegründet, Narbonne, Nîmes, Béziers. Lange Zeit brach gelegen, überwachsen, vergessen, wird die 250 km lange Straße von der Region Languedoc-Roussillon seit kurzem wieder hervorgehoben, mit historischen Wanderpfaden und kulturellen Zwischenstopps. Beispielsweise findet man hier zahlreiche römische Badeanstalten, von denen einige genutzt werden.

Nach der überraschenden Ausgrabung begann Durand mit Weinbau auf römische Art

Doch was bei der Via ein zwar langwieriger, dennoch zentral organisierter Prozess ist, gestaltet sich in den Orten um Beaucaire zuweilen etwas komplizierter. Der Führer, Pascal Crapé, beschreibt das Dilemma mitten im Getreidefeld: „Bis hierher konnten wir den Verlauf eines Aquäduktes nachvollziehen“, erzählt er. „Dann haben wir in diese, diese und in diese Richtung gegraben, aber nichts gefunden. Nun müssen wir dort entlang …“ Doch der Besitzer des Feldes, auf das er zeigt, ist wenig begeistert vom Ausgrabungseifer.

Aber es gibt auch Beispiele für gelungene Zusammenführung von Antike und Moderne. Auf dem Grundstück der Familie Durand fand man Anfang der 80er-Jahre Spuren einer antiken römischen Villa. Hervé Durand lud Archäologen ein weiterzubuddeln und sah begeistert zu, wie nicht nur die Villa, sondern auch eine antike Amphoren-Manufaktur ausgegraben wurde.

Mit professioneller Hilfe forschte er weiter, diesmal in Richtung Weinbau. Zehn Jahre nach der erstaunlichen Entdeckung begann er mit Weinbau auf römische Art, und seitdem findet jedes Jahr im September im „Mas de Tourelles“, so der Name der Domäne, eine lehrreiche Veranstaltung statt: in obligatorischen Lappen gekleidet pflücken Knaben und Mädchen die saftigen Reben per Hand, zertreten sie in der authentisch nachgebauten „cella vinaria“ mit den nackten Füßen, drehen an der imposanten Presse und füllen den so gewonnenen Saft in Amphoren, wo er mit geheimnisvollen Kräutern und Gewürzen so lange reift, bis er in modernen Glasflaschen abgefüllt wird. Das originalgetreue Ergebnis ist eine echte Entdeckung, der Geschmack nicht einfach zu enträtseln.