: Im Schulflur auf Knien sitzend essen
Vor drei Jahren hat Bayern im Hauruckverfahren das achtjährige Gymnasium eingeführt. Und so gezeigt, wie überhastete Reformen Schüler, Lehrer und Eltern über Jahre verunsichern können. Ein Drittel der Eltern klagt über das gestiegene Pensum
Seit dem Pisa-Schock ist Deutschlands Bildungslandschaft in Bewegung. Kita-Ausbau, Ganztagsschulen und Abitur nach 12 Jahren – Politiker und Experten erproben neue Wege. Allerdings sind es in jedem Bundesland andere. Teilweise widersprechen sich sogar die Ziele der Reformen. Ist das der erhoffte Aufbruch, oder überwiegt das föderale Chaos? Dieser Frage geht die taz in einer Serie nach. In loser Folge schreiben unsere Korrespondenten über die neuen Entwicklungen zum Thema Bildung. Bisher erschienen: Baden-Württemberg (6. 8.), Rheinland-Pfalz (14. 8.), Schleswig-Holstein (17. 8.). TAZ
AUS MÜNCHEN WOLF SCHMIDT
Maria Lempl hat den Vergleich. Und der fällt negativ aus. Drei ihrer Kinder haben das neunjährige Gymnasium besucht, die jüngste Tochter, die 14-jährige Victoria, geht aufs neue achtjährige. „Die anderen hatten es viel leichter“, sagt die Mutter aus Bayreuth. „Die vielen Stunden und die Stofffülle, die ziehen die Victoria richtig runter.“ Sogar das Tanzen habe sie aufgegeben. „Mama, ich schaff die Schule sonst nicht“, habe sie gesagt.
Vor drei Jahren hat Bayern an seinen Gymnasien die Schulzeit auf acht Jahre verkürzt. Es war eine Einführung im Hauruckverfahren, die völlig überraschend kam. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) hatte noch vor den Landtagswahlen 2003 versprochen, am neunjährigen Gymnasium festzuhalten. Die neuen Lehrpläne waren gerade erst fertig – auf neun Jahre angelegt –, da setzte sich bei Stoiber plötzlich die Einsicht durch, dass deutsche Schüler im internationalen Vergleich zu lange die Schulbank drückten. Das achtjährige Gymnasium, das G 8, war geboren.
Vielleicht war es dieser Geburtsfehler, der dazu geführt hat, dass die Reform in den Folgejahren so heftig kritisiert wurde wie kaum eine andere: überforderte Kinder, voll gestopfte Stundenpläne, verunsicherte Lehrer, gestresste Eltern. Bis heute hält die Kritik an. „Die Kinder, die jetzt das G 8 besuchen, sind Versuchskaninchen“, sagt Simone Tolle, bildungspolitische Sprecherin der Grünen im bayerischen Landtag. „Man hätte sich viel mehr Zeit nehmen müssen.“
Ein Beispiel für die Undurchdachtheit: Wegen der gestiegenen Zahl von Unterrichtsstunden am Nachmittag mussten die Schulen in Bayern hektisch anfangen, Aufenthaltsräume und Mensen zu bauen. Erst vor kurzem wurden sie an vielen Gymnasien fertig gestellt. „Meine Tochter musste noch bis vor drei Wochen auf den Knien sitzend im Schulflur essen“, berichtet Isabell Zacharias, Vorsitzende des bayerischen Elternverbands.
Auch die Lehrer stöhnen drei Jahre nach Einführung des G 8 noch immer. „Die Reform war ein Schnellschuss, und das merkt man bis heute“, sagt Oliver Manger, Lehrer für Wirtschaft und Recht an einem Gymnasium in Unterfranken. So habe er auch im letzten Schuljahr ohne Lehrbuch auskommen müssen – es gab noch keines, das auf das achtjährige Gymnasium zugeschnitten war. Auch er beobachtet, dass die Belastung für die Schüler größer geworden ist: „Es wird immer schwieriger, Schüler für freiwillige Projekte wie Schultheater oder Schülerzeitung zu gewinnen“, sagt Manger.
Kein Wunder: Bereits in der sechsten Klasse kommt im G 8 die zweite Fremdsprache dazu. In der siebten Klasse werden jetzt 34 Stunden unterrichtet – früher waren es 30. „Für die Kinder steht nur noch die Schule im Mittelpunkt“, sagt Elternverbands-Chefin Zacharias.
Wie groß der Druck auf Schüler und Eltern ist, zeigt eine Umfrage der Landeselternvereinigung der Gymnasien in Bayern (LEV) unter 55.000 Eltern, die sie im Juli bei einer Anhörung im bayerischen Landtag präsentierte. Rund 34 Prozent der Eltern mit Kindern im achtjährigen Gymnasium geben an, dass das Lernpensum den Familienalltag häufig oder ständig belaste. Bei Kindern im neunjährigen Gymnasium waren es nur 14 Prozent.
Doch nicht alles ist schlecht am achtjährigen Gymnasium. Die neu eingeführten „Intensivierungsstunden“ werden von Eltern, Lehrern und Bildungsexperten gelobt. In diesen Stunden wird in kleineren Gruppen Gelerntes wiederholt. „Die Intensivierungsstunden möchte keiner mehr hergeben“, sagt Max Schmidt, Vorsitzender des bayerischen Philologenverbands. Und auch die neuen Lehrpläne für das achtjährige Gymnasium erfüllen das, was Bildungsexperten seit Jahren fordern: Sie lassen den Lehrern mehr Freiheiten, zwischen Themen auszuwählen und Schwerpunkte zu setzen.
Andere Probleme kommen aber erst noch auf Bayern zu. Eines der größten: Was passiert 2011, wenn zeitgleich zwei Jahrgänge das Gymnasium verlassen? „Das wird Riesenärger geben“, sagt Oskar Brückner, Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Bayern. „Die Unis sind auf den doppelten Jahrgang nicht eingerichtet.“
Auch die 14-jährige Victoria wird 2011 die Schule verlassen. Ihrer Mutter, Maria Lampl, graut heute schon davor. „Das wird ganz heftig“, sagt sie.
Doch noch schwerer könnten es dann die Real- und Hauptschüler haben. Wenn es nämlich für die Abiturienten an den Unis zu eng wird, so befürchten Experten, werden einige ausweichen und sich eine Lehrstelle suchen.