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Archiv-Artikel

Die Dynamik des Krieges

VON VERNICHTUNG GEWUSST Harald Welzer und Philipp Reemtsma sprachen über die Bedeutung der im Frühjahr 2011 veröffentlichten Soldatenprotokolle

Mehr als 60 Interessierte waren am Mittwochabend in das Literaturforum im Brecht-Haus gekommen, um zu hören, wie Philipp Reemtsma und der Sozialpsychologe Harald Welzer über das Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ sprachen. Welzer hatte das Buch mit dem Historiker Sönke Neitzel geschrieben – basierend auf 150.000 Seiten umfassenden Abhörprotokollen. Systematisch hatten Briten und Amerikaner während des Zweiten Weltkrieges die Gespräche deutscher Kriegsgefangene – Soldaten aller Dienstgrade und Waffengattungen – verschriftlicht (siehe taz vom 24. April 2011).

Zwar füge das Material dem historischen Wissensstand nichts hinzu, erklärte Harald Welzer. Ein „Sensationsfund“ sei es trotzdem. „Was wir bislang nicht gehabt haben, ist Material, das keinen Adressaten hat“, so Welzer. Erstmals erzählten die Akteure des Krieges selbst – scheinbar absichtslos und assoziativ. Was also bewegt Wehrmachtssoldaten und SS-Offiziere während des Kriegs? „Deren Realität ist anders, als man erwartet“, meint Welzer.

So wird in der Auswahl zwar viel über das Morden, Vergewaltigungen und die Freude am Abschießen erzählt – allerdings ganz nebenbei, eingebettet in Landschaftsbeschreibungen und Alltagsgeplauder. Worte wie „Tod“ oder „töten“ hingegen fallen nicht. Gerade wegen dieser verstörenden Mischung möchte man die Sprecher schütteln, so Reemtsma. „Es gibt dort aber keinen Schüttler und niemanden, der sagt: ‚Du bist verroht‘ “, sagt Welzer.

Die Diskutanten warnen vor der Verführungskraft der Dokumente, die darin bestünde, sich einzubilden, endlich zu wissen, was deutsche Soldaten systematisch morden ließ. „Sie packen ja nicht aus“, sagt Reemtsma. Umso überraschender ist, dass Reemtsma und Welzer die Gespräche für bare Münze nehmen. Schließlich leitet sich die These des Buchs, die Soldaten handelten nicht aus weltanschaulichen Überzeugungen, gerade daraus ab, dass die Gespräche nicht um Kriegsziele oder ideologische Spitzfindigkeiten kreisten. Aber hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Spielte die Überzeugung keine Rolle, oder wird schlicht vorausgesetzt, dass man die mit dem Gesprächspartner teilt?

Immerhin zeigen die Protokolle, dass auch einfache Soldaten über die Vernichtungspolitik Bescheid wussten. Auch die Bewertungen einzelner Aktionen haben eine Bandbreite, die von der Freude am Töten bis zum Zweifel reicht. Ein Entscheidungsspielraum wird den deutschen Soldaten aber nicht zugestanden.

Reemtsma spricht gar von „Automatismen in der menschlichen Konstitution“. Es gebe die Bereitschaft dazu, extrem gewalttätig zu sein. „Dass muss man einfach nur aktivieren: ‚Jetzt kannst du‘ .“ Beispiele dafür sieht er auch in der Gegenwart: Wer einen Ort wie Abu Ghraib schaffe, wisse auch um Gewaltexzesse, die er evoziere.

„Diese Dynamisierung von Gewaltexzessen ist nicht symptomatisch für den NS“, pflichtet Welzer bei. Der Buchtitel („Soldaten“) sei darum bewusst allgemein gehalten. Nun ist es klar: Zum Krieg gehört das Töten. Mit keinem Wort allerdings wird im Brecht-Haus zwischen Krieg und Vernichtungspolitik – die größtenteils abseits des Kriegsgeschehens stattfand – differenziert. Aus dem Publikum kommt darum der Vorwurf, das Duo erkläre die Taten des Einzelnen aus einem „Gruppendruck“ heraus. Dagegen verwehrt sich Welzer zwar, denn schließlich gestalte jeder Einzelne die Gruppensituation mit. Trotzdem scheint sich die Frage nach der deutschen Verantwortung wieder einmal zu drehen. Fortan könnte die Vernichtungspolitik der Nazis nur mehr als Beispiel für die Dynamiken jedes Krieges gelten – das deuteten Reemtsma und Welzer an. SONJA VOGEL