: Aufblühen in der Schwerindustrie
WAHLPROGRAMME (6) Sprachlicher Zickzackkurs: im Parteiprogramm der Linken trifft die Rhetorik von Klassenkämpfern auf den Jargon von Kulturwissenschaftlern. Und abends kommt die Energieberaterin vorbei
■ „Die Stadt als Wimmelbild“ von Christiane Rösinger (2. 9.) über die Grünen: Idylle mit Biowein
■ „Straßenrand zu Buschland!“ von David Wagner (26. 8.): Die FDP träumt vom Wollen. Sie will Cluster, Gentrifizierung und Studiengebühren und mehr Büsche.
■ „Die DKP kämpft Tag und Nacht“ von Jörg Sundermeier (19. 8.): Sie haben die richtigen Argumente, aber Lokalpolitik machen wollen sie nicht.
■ „Die sind allen anderen voraus“ von Detlef Kuhlbrodt (12. 8.) über die CDU: Das 100-Punkte-Programm liest man wie einen Roman und stellt fest, dass die Zeit der Dämonisierungen vorbei ist.
■ „Die Arbeit kommt zuerst“ von Cord Riechelmann (5. 8.) zum SPD-Programm: Die SPD träumt weiter den Traum von der Vollbeschäftigung.
VON KIRSTEN RIESSELMANN
Populistisches Mieten-Wild West und der staatsmännische Harald Wolf auf den Plakaten. Antiimp-Aktivisten auf antiisraelischem Flotilla-Kurs und die nachgeschobene Anti-Antisemitismus-Erklärung. Die Lötsch-Ernst-Misere, die Gysi-Grandezza, der stählerne ultralinke Flügel. Dass die Linke eine zu peinlichen Ausrutschern neigende Flickschuster-Partei ist, ist klar. Diese Zerrissenheit merkt man auch ihrem Berliner Wahlprogramm an. So viele Köche haben diesen Brei zusammengerührt, dass einem ganz schummrig wird beim linguistischen Zickzack.
Fest steckende Realos
Die Einleitung: von einem Kampagnen-Team in Manifeststimmung geschrieben, das vor lauter Furor alle Regeln der Kommasetzung niederwalzt. Das Kapitel zum Thema Beschäftigung: von alten Klassenkämpfern verfasst. Das Kapitel zur Bildung: von zwischen Gutmenschentum und Sachlichkeit fest steckenden Realos geschneidert. Das staubtrockene Kapitel zur Wohnungspolitik, von Bürokratie-Nerds zusammengeschraubt und en détail nur von langjährigen Mitgliedern des Mieterschutzbundes zu verstehen. Kulturwissenschaftlich versierte Polit-Seiteneinsteiger wurden mit dem Potpourri-Kapitel „Stadt, in der wir leben“ betraut. Prompt sollen Fördermittel „kultursensibel“ eingesetzt, der „postkoloniale Diskurs“ in Berlin intensiviert und „der Umgang mit den Stätten der Erinnerungskultur“ prioritär gesetzt werden.
Als niedlicher roter Faden ziehen sich allein ein paar Ostigkeiten und marxistisch geschulte Floskeln durch die 70 Seiten Programm. Da will die Partei „einen radikalen Politikwechsel, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht und nicht der Profit“. Da soll die Kooperation mit „benachbarten Wojewodschaften“ in Polen verstärkt und die Hartzer nicht mehr „unter die Knute der Jobcenter“ gezwungen werden. Da ist Berlin plötzlich „Stadt des Friedens“. Da hat die Bahn allzu dreist „Gewinne aus dem Unternehmen gepresst“. Schulen geben keine Stundenpläne, sondern „Stundentafeln“ aus.
Die Linke will an allen Ecken und Enden die Demokratie stärken: mehr Volksentscheide sollen her, dazu Schulentscheide und Senioren-Vertretungen. Durch die „vollständige Breitband-Anbindung“ aller BerlinerInnen sollen Online-Bürgerbegehren und Internet-Live-Übertragungen von Abgeordnetenhaussitzungen möglich gemacht werden. Aber dann wieder ein Downer: Obwohl man für die doppelte Staatsbürgerschaft ist, sollen die gestärkten Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe bei jungen, binationalen Menschen „dafür werben, sich für einen deutschen Pass zu entscheiden“.
Ist die Entscheidung für den richtigen Pass erst einmal gefallen, entfaltet sich das Utopia der Linken um den zentralen Begriff der „Guten Arbeit“. Dieser steht für Arbeitsplätze, die voll sozialversichert sind, mit einem Mindestlohn von 7,50 Euro die Stunde bezahlt werden, „sinnvoll“ sind und außerdem noch Spaß machen. Entstehen sollen diese Arbeitsplätze vor allem in der – man höre und staune – Industrie. Dass Berlin in den Neunzigern zu einer „Kultur- und Dienstleistungsmetropole“ umgebaut worden ist, findet die Linke doof, denn für sie ist nur der ehrliche Industriestandort „zentrales Element wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung“. Sicher, auch die Künstler „müssen“ von ihrer Kunst leben können. Aber wahrhaft „Gute Arbeit“ gibt’s in der Produktion. Irritierend nur, dass diese „Gute Arbeit“ immer in Anführungen geschrieben wird: In dieser Forderung schwingt also eine latente Uneigentlichkeit mit, eine Ironie, das Wissen um die Weltfremdheit dieser Forderung.
An anderer Stelle hat die Linke die Zeichen der Zeit erkannt: Sie zieht alle Register des angesagten Greenwashing. Sie wird nicht müde, das Berlin der Zukunft als ökologische Vorbildstadt zu zeichnen, als sauberes Shangri-La der Elektromobilität und der Kaltluftschneisen, als „Umweltmetropole“, die sich aus erneuerbaren Energien speist, alle Klimaziele erreicht und ganz bald schon in der Spree badet.
Gerahmt von diesem Szenario muss man sich das Plansoll-Berlin der Linken wohl so vorstellen: Eltern schieben freudvoll Schichtdienst in der aufblühenden Schwerindustrie, ihre Jüngsten aasen in 24-Stunden-Kitas, die Älteren machen in Gemeinschaftsschulkollektiven Abitur, auf den barrierefreien Schulkorridoren flitzt eine Armada von Rollifahrern umher. Nach der Maloche entspannen die Erwachsenen in „staatlich regulierten Coffee-Shop-Modellen“, während die Kinder Spaß haben mit dem „Super-Ferien-Pass“, der ihnen nach umständlichster Antragsstellung kostenlos ausgehändigt wird. Am Abend kommt die Energieberaterin vorbei, um „Energiefresser im eigenen Verhalten und in der Technik aufzuspüren und abzustellen“. Wer sich hier nicht „unterstützen“ lassen will, wird von Absolventinnen des wieder eingeführten Kriminalistikstudiengangs der Humboldt-Uni dingfest gemacht.
Gute Argumente für die Linke in Berlin: Sie haben in den letzten Jahren drei beitragsfreie Kita-Jahre durchgesetzt. Und sie wollen das Schloss nicht.