Verletzung der Menschenwürde

Ein Journalist erzählt eindrücklich davon, wie er einen Platz für seinen pflegebedürftigen Vater sucht. Es ist ein wichtiges Buch, weil der Pflegefall bald nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sein wird

Ein Anonymus schildert, wie er versucht, für den pflegebedürftigen, aber geistig wachen Vater eine angemessene Bleibe zu finden. Die Mutter des Autors, die ihren Mann jahrlang die Treppe hoch- und heruntergehievt und ihn 24 Stunden am Tag betreut hat, ist plötzlich gestorben. Der Autor – Ressortleiter einer überregionalen Tageszeitung – trifft aus der fernen Stadt ein und steht mit seiner ebenfalls berufstätigen Schwester vor der titelgebenden Frage: Wohin mit Vater?

Die Geschwister begutachten zwei Pflegeheime und fliehen entsetzt vor Uringestank, kärglichen Doppelzimmern und der Würdelosigkeit der kasernierten Demenz. Den Vater im eigenen Haus professionell betreuen und pflegen zu lassen kostet ein Vermögen. Die Schwester kasteit sich mit der Vorstellung, die Aufgabe selbst zu übernehmen. Schließlich findet sich Tamara aus Polen, eine illegale Pflegekraft, der es sogar gelingt, dem 86-Jährigen ein wenig Mobilität zurückzugeben.

Jede Pflegegeschichte ist eine Familiengeschichte, eine Gefühlsgeschichte. „Wohin mit Vater?“ liest sich spannend wie ein Roman, ist dabei plausibel und berührend. „Scham, Schuld und schlechtes Gewissen“, weil er sich zu wenig Gedanken über das Schicksal seiner Eltern gemacht hat, weil er keine Ahnung hatte, wie die ganze Gesellschaft mit ihren pflegebedürftigen Alten umgeht, befallen den Sohn und werden ihn trotz Tamara am Ende nicht loslassen. Denn die Beunruhigung darüber, dass das Beschäftigungsverhältnis illegal ist und die Verantwortung zu spät erkannt und nur unzureichend erfüllt wurde, wird bleiben – und sich, ganz im Sinne des Autors, auf Leserin und Leser übertragen.

Elegant webt der Autor Fakten in seine Geschichte: Fast zum Allgemeinwissen zählen inzwischen die Grunddaten zur Demografie, zur Alterung der Bevölkerung sowie die Anerkennung der neuen wirtschaftlichen und sozialen Möglichkeiten der „jungen Alten“. Dass aber mit der steigenden Zahl der Hochaltrigen, der „alten Alten“, auch die Pflegebedürftigkeit zunimmt, dass der Pflegefall bald nicht mehr der Ausnahme-, sondern der Normalfall ist, dass die Pflegeversicherung hierfür keine Lösung bereithält, darüber schreibt der Autor im erschrockenen Ton des erst jüngst von der Erkenntnis getroffenen Journalisten.

Dem lautstarken Münchner „Pflegekritiker“ Claus Fussek räumt der Autor zu Recht einen Extraplatz ein. Niemand sonst hat schon Jahre vor der aktuellen Pflegediskussion so deutlich gemacht: Die Zustände in der Pflege müssen als Menschenrechtsverletzungen gegeißelt werden. Erst mit dem Bestseller „Abgezockt und totgepflegt“ (Econ, 2005) des Undercover-Reporters Marcus Breitscheidel ist der – so der Untertitel– „Alltag in deutschen Pflegeheimen“ auch wieder Gegenstand öffentlicher Debatten geworden.

Umso verwunderlicher und auch bedauernswert ist es, dass der Autor kein Wort darüber verliert, wie es Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) seit Amtsantritt 2001 gelungen ist, das Thema Pflege zu umschiffen. Wohl wissend, wie erbärmlich die Zustände und wie notwendig Finanz- wie Strukturreformen sind, hat sie die Pflegeversicherung im Wesentlichen zweimal bloß durch Beitragssatzerhöhungen kurzfristig vor der Pleite bewahrt.

Vermutlich wollte der Autor sich nicht in die Untiefen der Sozialsystemdebatten – Kapitaldeckung ja/nein und so weiter – begeben und dadurch politisch verortbar und angreifbar werden. Seine Anklage, wie blind und taub er selbst wie auch die Gesellschaft für die Pflegebedürftigen (gewesen) ist, hätte er jedoch getrost auf die zuständigen Politiker ausweiten dürfen.

ULRIKE WINKELMANN

Anonymus: „Wohin mit Vater? Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 190 S., 16,90 Euro