piwik no script img

Archiv-Artikel

Schwulst und Propaganda

Todd Gitlin, Jahrgang 1943, ist US-amerikanischer Soziologe. Sein Themenschwerpunkt: die Medien. Derzeit lehrt er an der Columbia University in New York. Gitlin war Sprecher der Students for a Democratic Society, einer Organisation der Studentenbewegung in den Sechzigern, und half bei der Organisation der ersten nationalen Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Im September wird sein neues Buch erscheinen. Titel: „The Bulldozer and the Big Tent: Blind Republicans, Lame Democrats, and the Recovery of American Ideals“.

Gitlins Medienschelte hier ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Soziologe im März dieses Jahres im Institut für Medien- und Kommunikationspolitik in Berlin gehalten hat. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Alexander Matschke.

Beim Blick in die amerikanischen Medien vermisst Todd Gitlin den kritischen Geist. Das mag daran liegen, dass der sich oft nur kleinlaut zu Wort meldet. Vor allem aber notiert der Soziologe einen zunehmenden Antiintellektualismus in den USA. Nicht erst seit dem Irakkrieg

VON TODD GITLIN

Nationen haben es an sich, dass sie, von weitem betrachtet, glatt und nahtlos erscheinen. Vom All aus wirken sie wie monolithische Blöcke. Wir sprechen von einer Nation im Grunde wie von einer Person und führen so eine mittelalterliche Tradition fort, nach der beispielsweise der französische König als „Frankreich“ angesprochen wurde. Und dennoch ist es bequem und daher weit verbreitet, Unterscheidungen wegfallen zu lassen und hochtrabende Feststellungen darüber zu machen, was das Wesen einer Nation sei. Diese großen Statements kommen einem besonders dann über die Lippen, wenn ein Staatsoberhaupt einen tiefen Eindruck hinterlässt, egal ob vorteilhaft oder nicht.

All dies sind Gründe, weshalb die Gravitationskraft George W. Bushs mehr als sechs Jahre lang Amerika und die Amerikaner an sein Bild zu binden schien. Und so ist es wenig überraschend, dass viele Europäer und Bewohner anderer Kontinente den Eindruck bekommen konnten, die amerikanischen Intellektuellen im Speziellen hätten ihre Kritik an Bushs Außenpolitik nach dem 11. September 2001 eingestellt.

Im September vergangenen Jahres zum Beispiel schrieb der viel zitierte Historiker Tony Judt, ein in New York ansässiger Engländer, in der New York Review of Books über den von ihm so genannten „Seltsamen Tod des liberalen Amerika“. Er begann folgendermaßen: „Warum haben amerikanische Liberale Bushs katastrophale Außenpolitik hingenommen? Warum haben sie so wenig zum Irak, zum Libanon oder zu Berichten über einen geplanten Angriff auf den Iran zu sagen? Wie konnte der anhaltende Angriff der Regierung auf die Bürgerrechte auf so wenig Widerspruch oder Empörung derjenigen stoßen, die sich für gewöhnlich am stärksten für diese Rechte einsetzen?“

Fast alle faktischen Prämissen von Judts Fragen sind falsch. Zunächst einmal haben liberale Intellektuelle keineswegs generell den Irakkrieg unterstützt. Professor Judt hat hier grob vereinfacht. Die meisten liberalen, linken Intellektuellen in den Vereinigten Staaten waren gegen den Irakkrieg. Viele von ihnen demonstrierten am 15. Februar 2003 in einem riesigen Protestmarsch. Doch wahr ist, dass eine laute und deutlich sichtbare Minderheit sogenannter liberaler Falken, viele von ihnen bekannte Journalisten, Bushs Krieg unterstützt hat.

Viele der liberalen Kriegsunterstützer in den USA sind durch die Anziehungskraft eines einzelnen Mannes überzeugt worden, den eloquenten irakischen Immigranten Kanan Makiya. Er ist Autor zweier bemerkenswerter Bücher über Saddam Hussein: „Republic of Fear“, veröffentlicht 1990, sowie dessen Fortsetzung „Cruelty and Silence“ aus dem Jahr 1993. Makiya war einer der wenigen wahrnehmbaren arabischen Intellektuellen in den USA, die sich öffentlich gegen die Al-Qaida-Angriffe aussprachen. Er war bis dahin ein Mann der Linken mit tadellosen liberaldemokratischen Referenzen. In der Zeitschrift Dissent hatte sich Makiya energisch gegen eine fundamentalistische Linke ausgesprochen, die es ablehnte, die Verderbtheit der nahöstlichen Tyrannei vor Ort zu untersuchen – mit der Begründung, dies bedeute, sich auf die Seite des amerikanischen Imperialismus zu stellen.

Die allgemeine Bereitschaft zum Irakkrieg war in den Vereinigten Staaten, von den Intellektuellen einmal abgesehen, in Wahrheit viel ambivalenter, als mancher Beobachter meinte. Die öffentliche Meinung war im Vorfeld des Krieges 2002/2003 gespalten. Und dies trotz der gutgläubigen, ehrerbietigen und verdrehten Nachrichtenberichterstattung in den USA, die Saddam Hussein als eine immanente militärische Bedrohung für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten darstellte.

Als der Krieg dann begonnen hatte, schwenkte die öffentliche Unterstützung auf Bushs Linie ein, wie es für Kriegszeiten charakteristisch ist. Aber die Zustimmung begann fast sofort zu schwinden und nahm seit März 2003 nahezu kontinuierlich ab. Die einzige Ausnahme: Im Zeitraum direkt nach der Festnahme Saddam Husseins stieg sie kurzzeitig an. Eine Mehrheit der Amerikaner denkt jedoch schon seit geraumer Zeit, dass der Krieg ein missglücktes Unterfangen ist.

Ein naiver Journalismus war dabei behilflich, den Krieg als notwendig und unvermeidbar zu „verkaufen“. Zweifel an seiner Klugheit wurden auf die Innenseiten der einflussreichen Zeitungen verbannt, während auf den Titelseiten wild über fortgeschrittene Projekte für Massenvernichtungswaffen im Irak spekuliert wurde.

Generell hätte jeder, der die Nachrichten amerikanischer Medien zwischen 2001 und 2004 las oder sah, den Eindruck bekommen, dass die Journalisten Bushs Außenpolitik mit Samthandschuhen anfassten. Tatsächlich handelte es sich um eine Art doppelte Rücksichtnahme. Zum einen bestand Nachsicht hinsichtlich der Wahrnehmung. Anders ausgedrückt: Man ging von Bushs Prämissen aus und neigte dazu, seine Erklärungen als Fakten zu akzeptieren. Und zum anderen gab es eine Rücksichtnahme in der Tonart: dergestalt, dass der Präsident schon wissen werde, was er tut – er sei ja schließlich der Oberbefehlshaber. Wohlgemerkt: Ich rede hier von professionellen Journalisten.

Doch zurück zu der Behauptung von Tony Judt, die liberalen Intellektuellen hätten sich Bush angedient. Man muss auch in Betracht ziehen, dass der Eindruck, Amerikas Intellektuelle hätten Bushs Außenpolitik akzeptiert, durch zwei Faktoren verstärkt wird: erstens die beschriebene früh erfolgte Rücksichtnahme der Medien auf Bushs Irakpolitik und zweitens die generelle Vernachlässigung intellektueller Meinungen durch die amerikanischen Medien. Lassen Sie mich diese Vernachlässigung anhand eines Beispiels veranschaulichen, das ich aus eigener Erfahrung kenne. Nachdem Tony Judts Artikel erschienen war, dachten Professor Bruce Ackerman von der Yale Universität und ich unabhängig voneinander, dass dieses Statement eine Antwort verdiene. Also schrieben wir eine Art Manifest mit dem Titel „We Answer to the Name of Liberals“. Dieses publizierten wir in der Zeitschrift The American Prospect, unterzeichnet von ungefähr fünfzig liberalen amerikanischen Intellektuellen, unter ihnen Träger des Nobelpreises und anderer Auszeichnungen. Diese Antwort wurde im November 2006 veröffentlicht und anschließend in führenden Zeitungen aus mindestens zehn Ländern abgedruckt. In Deutschland erschien sie in der Süddeutschen Zeitung, in Italien auf der Titelseite von La Repubblica, in Frankreich in Libération, in Spanien in El País, in Dänemark in Weekendavisen, in Norwegen in Aftenposten, in Argentinien in La Nación, in drei oder vier Zeitungen Brasiliens und in Kanada in The Toronto Star.

Das Manifest wendet sich ausdrücklich gegen den Irakkrieg, Bushs Nahostpolitik und seinen Machtmissbrauch. Dieses Manifest wurde, wie gesagt, in den führenden Zeitungen von zehn Ländern veröffentlicht. Meines Wissens ist es in keiner US-amerikanischen Zeitung auch nur zitiert worden. In keiner einzigen. Kein Abdruck, kein Zitat, keine Erwähnung. Ich denke, dass dies, abgesehen von meinem persönlichen Interesse an dem Artikel, durchaus erhellend ist hinsichtlich des Verhältnisses amerikanischer Medien zu Intellektuellen. Diese Unterlassung reflektiert den anhaltenden und sich verschärfenden Antiintellektualismus in den amerikanischen Medien.

Antiintellektualismus im amerikanischen Leben, um den Titel eines unverzichtbaren Buches des inzwischen verstorbenen Historikers Richard Hofstadter zu zitieren, das 1963 erschien („Anti-intellectualism in American life“), ist ein grundlegender Aspekt des US-amerikanischen Diskurses. Hofstadter verknüpft darin den Antiintellektualismus, diese klaffende Wunde im amerikanischen Bewusstsein, mit dessen dreifacher Verwurzelung in religiösen, politischen und wirtschaftlichen Traditionen. Intensiviert wurde der Antiintellektualismus während des knappen halben Jahrhunderts seit Hofstadters Publikation durch die extreme Kommerzialisierung der amerikanischen Medien. Hinzu kommt eine Medienkultur der großen Klappe, die mit unserer Celebrity-Kultur Hand in Hand geht. Die Konsequenz ist eine bunt zusammengewürfelte Welt aus Medienmagnaten, die nichts interessiert außer der Anzahl von Augen und Ohren, die an die Werbewirtschaft vermietet werden können.

Relevante Nachrichten machen nur noch einen schrumpfenden Teil aus in einem medialen Unterhaltungskomplex, der Angelegenheiten von allgemeinem Interesse bestenfalls gleichgültig und schlimmstenfalls feindselig gegenübersteht, gar nicht zu reden vom weiteren Geistesleben. Die Deregulierung der letzten dreißig Jahre hat es den Medienbesitzern erlaubt, selbst das vorgesehene Minimum an Public-Service-Orientierung zu ignorieren, das zuvor im amerikanischen Lizenzfunk bestand. Ein Resultat dieser Deregulierung ist das in den Neunzigerjahren aufgekommene sogenannte Talk-Radio, eine Ausgeburt an Schwulst und Propaganda. Ausnahmen zu dieser Entwicklung finden sich im öffentlich-rechtlichen Radio und in geringerem Maße im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Dennoch reagieren auch diese Institutionen allergisch auf anspruchsvolle und intellektuelle Arbeit. Sogar in der Kunst – vielleicht sollte ich besser sagen: besonders in der Kunst – existiert bei uns kein Äquivalent zu der Karriere des Briten Dennis Potter oder des Deutschen Rainer Werner Fassbinder – zu Künstlern, die meisterhafte Werke für das Fernsehen schufen. Es gibt sie nicht.

Eine vor kurzem bekannt gegebene Entscheidung passt in das Bild eines kleiner werdenden öffentlichen Raumes für ernsthafte, intellektuelle Diskussionen. Die führende Zeitung der Westküste, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Los Angeles Times, wandelt ihren traditionsreichen sonntäglichen Buchrezensionsteil in einen „Teil für Meinungen und Bücher“ um. Dieser soll in der Samstagsausgabe erscheinen, die in der Woche am wenigsten gelesen wird. Der Niedergang der Buchbeilage der Los Angeles Times bedeutet, dass in den gesamten Vereinigten Staaten mit ihren hunderten Zeitungstiteln – einst von Alexis de Tocqueville als Beweis für die Vitalität der amerikanischen Gesellschaft gerühmt – nur noch fünf Zeitungen übrig bleiben, die eigenständige wöchentliche Buchbeilagen haben. Und diese fünf Beilagen sind natürlich hoch selektiv und bevorzugen die einfachsten Bücher.

Ich habe bisher die strukturellen Hindernisse für intellektuelle Ernsthaftigkeit in den amerikanischen Medien hervorgehoben. Das Bild wäre jedoch unvollständig, ohne zu betonen, dass die Intellektuellen ihre marginale Präsenz in der amerikanischen politischen Kultur zum Teil selbst verantworten. Die meisten akademischen Intellektuellen würden am liebsten in ihrem Leuchtturm bleiben, statt ihre Präsenz in der Öffentlichkeit zu entwickeln. Außerdem glauben viele, dass alles, was man über das amerikanische Leben wissen muss, ewige Wahrheiten über den amerikanischen Imperialismus sind. Sie sind Stolz auf ihre Distanz zur Macht, wodurch ihre Kritik zu einer Art abstrakten Theologie wird. Man ist nicht politisch, und daher sind die Auftritte im öffentlichen intellektuellen Leben im Allgemeinen schüchtern und verkrampft. So ist es teilweise die Schuld der Intellektuellen selber, dass der bereits enge intellektuelle Raum im amerikanischen öffentlichen Leben wesentlich von anderen übernommen wird – von den Vertretern der so genannten Think-Tanks, die eher Propagandainstitute heißen sollten, von prominenten Sprücheklopfern und von Spezialisten, die faulen oder überarbeiteten Journalisten als professionelle Quelle dienen.

Es ist also nicht verwunderlich, dass die Medien des rechten Flügels mit ihrer Interpretation der Welt am deutlichsten zu vernehmen sind. Nicht nur das Talk-Radio, sondern auch das berüchtigte Fox News Network von Herrn Murdoch – der sogenannte Nachrichtensender, der eigentlich ein Propagandasender ist. Von der Linken konnte bisher in der Medienwelt nichts mit Fox Vergleichbares aufgebaut werden, und ich glaube, dass dies aus finanziellen, politischen und kulturellen Gründen auch nicht möglich ist. Anfang März habe ich im Internet ein Standbild aus einer Fox-News-Sendung der vorangegangenen Woche gesehen, als das Urteil im Lewis-Libby-Prozess verkündet wurde. Dabei ging es um die Frage, ob der Stabschef von Dick Cheney bei der Untersuchung der Regierungskampagne zur Rufschädigung von Joseph Wilson gelogen hatte. Wilson war der Regierung als Botschafter ein Dorn im Auge gewesen. Libby war in fünf Punkten angeklagt. In vier Punkten wurde er für schuldig befunden und in einem freigesprochen. In den Fox-Nachrichten wurde jedoch im Moment des Urteils folgende Schlagzeile gebracht: „Libby vom Vorwurf der Lüge gegenüber dem FBI freigesprochen“. Das war der fünfte Anklagepunkt.

Es ist kein vielversprechender Punkt, mit dem ich zum Ende gekommen bin. Aber ich kann kein Happy End liefern. Ich möchte folgendes festhalten: Sollten Sie den Eindruck haben, Amerikas liberale Intellektuelle hätten sich einlullen lassen, dann liegt das nicht daran, dass die Intellektuellen geschlafen haben, sondern an den amerikanischen Medien, die oft genug nichts sind als Chloroformlieferanten.