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Archiv-Artikel

ARAM LINTZEL ÜBER BESTELLEN UND VERSENDENTYRANNISCHE POESIE GIBT ES NICHT NUR IN DER DICHTUNG VON DESPOTEN Die Nulldiagnosen des Botho Strauß

Vor einem Jahr erschien auf Deutsch das Pamphlet „Der Kommende Aufstand“, dessen Sabotagerhetorik es bis in die sogenannte bürgerliche Presse schaffte. Inzwischen gibt es echte Aufstände, und latent lustvoll ist in TV-Berichten aus Libyen von „den Rebellen“ die Rede. In der Frequenz, mit der die Berichterstatter das schillernde Wort aussprechen, dürfte sich dasselbe Verlangen zu Wort melden, das seinerzeit dem „Unsichtbaren Komitee“ zum Verkaufserfolg verhalf.

Doch was macht man in der liberalen Demokratie, wenn man nicht zur Waffe greifen kann oder will? Der zivile Ersatz für Gefahr und Kampf ist die Poesie, der Versuch, „ein wildes und poetisches Leben zu führen“, wie es im Titel des aktuellen Romans von Tomas Espedal heißt: „Gehen: oder die Kunst, ein wildes und poetisches Leben zu führen“. Doch nicht nur zum Gehen fehlt heute die Zeit; Lottern, Gammeln, Umherschweifen, Slacken oder wie die entsprechenden Kulturtechniken in unterschiedlichen Epochen hießen, sind nicht einmal mehr als Retrophänomene prestigeträchtig. Dass es auch andere Zeiten gab, davon erzählt der belgische Alt-Situationist Raoul Vaneigem in seinem neuen Buch „Zwischen der Trauer um die Welt und der Lust am Leben“. Darin setzt er das Schöpferisch-Poetische den monströsen Zumutungen des Erwachsenenlebens entgegen. Der situationistischen Bewegung sei es darum gegangen, „der Welt und dem Menschen ihre Kindheit, ihre ursprüngliche Frische, ihre schöpferische Entwicklung zurückzugeben“.

Das rebellische, verschwenderische und intensive Leben, in dessen Namen Vaneigem spricht, ist natürlich auch für Herrschende attraktiv. Der gerade erschienene Reader „Despoten dichten“ (herausgegeben von Albrecht Koschorke und Konstantin Kaminskij) analysiert poetische Texte von modernen Tyrannen wie Benito Mussolini, Muammar al-Gaddafi, Saddam Hussein oder Kim Il Sung. Aufgezeigt werden „Zusammenhänge zwischen Romantik, Avantgarde und tyrannischer Poesie“. Slavoj Zizek nennt das in seinem Beitrag über Radovan Karadzic den „poetisch-militärischen Komplex“. Insbesondere dem romantischen Dichter stünden die neuen Autokraten sehr nahe, schreibt der bulgarische Philosoph Boyan Manchev: „Sie betätigen sich im gleichen Feld der Intensität.“

Während Vaneigem auf sympathisch unnostalgische Weise versucht, den subversiven Gehalt poetischer Erfahrungen – Kneipenexzesse, psychogeografische Abschweifungen etc. – vor den Zugriffen der Macht zu retten, hat hierzulande Botho Strauß wieder einmal auf ein vollkommen anders angelegtes Modell poetischer Herrschaftskritik aufmerksam gemacht. Die FAZ druckte neulich die Intervention „Klärt uns endlich auf!“ des ihrer Sondermeinung nach „bedeutendsten Dramatikers der Gegenwart“. Statt konkreter Erfahrungsdaten gibt es darin nichts als abstrakten Dünkel und Allerweltsweisheiten zu lesen. Geschwätzige Nulldiagnosen wie diese meint Strauß offenbar ernst: „Die Wolke eines pathetischen ‚Nie wieder wie zuvor‘ senkte sich über die ganze Republik, überwand rasch eine geistige Distanz, die die atomare gottlob nicht zurücklegte.“ Auch schwingt Strauß sich gern zum „poetischen Souverän“ (Koschorke/Kaminskij) auf, der im Namen aller sprechen darf. Über den Politiker als solchen schreibt er: „Die Autorität, die er vielleicht kraft seines Amtes noch besitzt, leidet in der Regel, sobald er den Mund aufmacht.“ Deshalb weiß Strauß: „Jedermann ist des Gewäschs überdrüssig.“ Strauß hält den Politikern dann noch wohlfeil „Fertigteil-Sprache“ und „mangelnde sprachliche Ausdruckskraft“ vor. Zu plump, um wahr zu sein?

Wenn der bedeutendste Dramatiker der Gegenwart sich eine andere Sprache der Politik wünscht, kann man jedenfalls Schlimmes befürchten. Vielleicht wäre er beim Schrifttum der Tyrannen gut aufgehoben. Diese folgen, so schreiben die Herausgeber von „Despoten dichten“, dem „Ideal des künstlerischen Genies, das sich voraussetzungslos selbst erschafft“ – weil sie „physisch und legitimatorisch aus dem Nirgendwo stammen“. Es ist zu befürchten, dass der Realpolitikverächter Botho Strauß sich klammheimlich nach einer Politik sehnt, die ebenso unvermittelt aus dem mystischen und ungefertigten Nichts aufsteigt.

■ Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion und freier Publizist