: „Ein Signal“
LESUNG Der erste Band der Gesamtausgabe der Tagebücher Erich Mühsams wird vorgestellt
■ 63, gab eine Werkauswahl und eine Biographie Mühsams heraus – und mit Conrad Piens nun die Tagebücher.
taz: Herr Hirte, Sie geben die Tagebücher Erich Mühsams heraus. Sind die vor allem von historischem Interesse?
Chris Hirte: Er konnte schreiben, seine Gefühle literarisch ausdrücken. Mühsam hat bereits Anfang des 20. Jahrhunderts versucht, alternative Lebensentwürfe zu leben. Durch diese Praxis wurde er der bedeutendste deutsche Anarchist. Die Tagebücher spielen da eine Schlüsselrolle.
Inwiefern?
Er selbst zu sein, in einer ihm feindlich gesinnten Gesellschaft zu leben, diese zu verändern – dafür musste er sich Rechenschaft ablegen. Seine Einträge umfassen die Jahre 1910 bis 1924.
Für die Beteiligung an der Münchner Räterepublik war er seit 1919 in Haft. Wurden die Tagebücher nicht konfisziert?
Doch, die bayerischen Bewacher haben sie nach Hinweisen durchsucht, die dann gegen ihn und andere verwendet wurden. Aber er hat sie alle zurückbekommen. Sie wurden nach Moskau gerettet, wo sie in die Hände der Geheimpolizei Stalins fielen. Auch dort wurde vielen Exilanten die Nennung in den Tagebüchern zum Verhängnis.
War es nicht unbedarft, sie zu nennen?
Mühsam musste schreiben, um zu überleben, aber die Zweifel hat er formuliert. Durch seine Beschreibungen der Festungshaft wurde der Psychoterror deutlich, eine Vorbereitung der späteren Vernichtung in den KZ. 1934 wurde Mühsam von SS-Männern erschossen.
Was bewog Sie dazu, die Edition der Tagebücher komplett online verfügbar zu machen?
Im Internet ist die Ausgabe erweiterbar, es gibt eine Nutzerbeteiligung durch Kommentare, eine Suchfunktion und die Original- Manuskripte sind einsehbar. So entsteht eine kritischen Gesamtausgabe der Tagebücher, die auch wissenschaftlichen Ansprüchen genügt.
Dennoch erscheinen 15 gedruckte Bände.
Ein Buch bestimmt den ästhetischen Lesevorgang, fühlt sich gut an und sieht gut aus. Der Verbrecher Verlag war zu dem Experiment bereit, weil er sich versprach, dass die Internet-Edition der Printausgabe hilft und sie nicht zerstört.
Ist das aufgegangen?
Bislang ja – ein Signal für die Mediendemokratie! Interview: JPB
19 Uhr, Villa Ichon