„Die Musiker bekommen nichts“

Wo der unfassbare Klang wohnt: Der Konzertort Stralau 68 ist eine Plattform für experimentelle Klaviermusik und andere improvisierte Konzerte. Doch dem Gründer Jürg Bariletti und seinen schmalen Einnahmen rückte die Gema auf den Pelz

INTERVIEW DIETRICH EICHMANN

taz: Herr Bariletti, wie sind Sie auf die Halbinsel Stralau als Veranstaltungsort gekommen?

Jürg Bariletti: Als Pianist ist man ja ein bisschen eingeschränkt: Wenn man einen Flügel hat, dann braucht man einen Raum, wo man das Ding hinstellen und ungestört proben und mit Leuten zusammen spielen kann. Nachdem ich das hier gefunden hatte, entwickelte sich auf ganz natürliche Weise der Veranstaltungsort. Es fiel schnell auf, dass es in Berlin praktisch gar keine Möglichkeiten für Pianisten gibt, aufzutreten, mit Präparationen zu arbeiten, mit Klangveränderungen usw. Ich wollte einen Ort explizit für Pianisten schaffen, die auf dem experimentellen Gebiet arbeiten. Seit der ersten interdisziplinären Konzert-Installation im April 2002 habe ich hunderte von Konzerten organisiert. Die Leute kommen hierher, weil sie Musik, und zwar genau diese Musik hören wollen.

Das Programm von Stralau 68 unterscheidet sich in wichtiger Weise von anderen Veranstaltern Improvisierter Musik in Berlin, die sich häufig über eng gefasste Musikstilrichtungen und Sozialisierungsrichtlinien definieren.

Ich lade auch Leute ein, die ich nicht persönlich und deren Musik ich noch nicht gut kenne. Wer hierher kommt, der weiß, es wird etwas Unvorhersehbares passieren, etwas Neues, etwas Spontanes, egal in welchem Genre es sich bewegt. Es kann richtig freejazzig abgehen, ich habe aber auch einige Konzerte im Bereich Neue Musik organisiert.

Komponisten fragen, ob sie ihre Stücke hier aufführen dürfen, meist weil sie wissen, dass ich hier einen Flügel habe, und es auch für sie keine andere Möglichkeit gibt, ihre Stücke zu realisieren, wenn sie nicht in den offiziellen Förderstrukturen drinstecken. Diese Offenheit ist wichtig, dass man nicht erst irgendwelche Konditionen erfüllen muss, um hier überhaupt auftreten zu dürfen. Der einzige kritische Punkt ist die Musik, der Ton, alles andere ist nebensächlich.

Ich glaube, man darf sagen, dass es einer der wichtigsten Orte in Berlin ist, wo internationale und europäische Kultur wirklich stattfindet, nicht nur auf dem Papier und mit irgendwelchen EU-finanzierten Projekten, sondern auf private Initiative, und es funktioniert tadellos. Aber es funktioniert eben nur solange, bis irgendwelche Behörden das spitz bekommen, und jetzt hab ich mein Problem.

Welche Behörden sind das?

Über ein Theaterprojekt, wofür ich Musik machte, wurde die Gema (Verwertungsgesellschaft für Urheberrechte in der Musik; d. Red.) auf mich aufmerksam. Die Agenten der Gema drohten mit Buße und zwangen mich, einen Vertrag zu unterschreiben, dessen monatliche Zahlungen ich gar nicht imstande bin zu leisten. Und ich dürfe keinen Barbetrieb machen und kein Eintrittsgeld nehmen. Das heißt, du musst gratis spielen kommen und verdursten.

Von diesen Einnahmen wird von der Gema an die Musiker, die hier auftreten, aber nichts verteilt.

Nein, denn es sind ja „improvisierende Musiker“. Das wird nicht anerkannt als Kunstrichtung, und es hat ja auch nichts mit Urheberrecht zu tun. Die Musiker bekommen nichts. Nach meiner Philosophie ist wirklich ernsthafte, frei improvisierte Musik auch nicht fassbar. Das ist ein einmaliges Hörerlebnis, das ist dann vorbei, es gibt keine Tonträger. Das aber ist für Behörden nicht fassbar, und das heißt auch keine Existenz bei der Gema – aber: bezahlen muss man! (Die so genannte Gema-Vermutung besagt, dass jede Aufführung von Musik mutmaßlich Teile des von der Gema verwalteten „Weltrepertoires“ beinhaltet. Die Beweislast, dass dem nicht so ist, liegt in jedem einzelnen Fall beim Veranstalter; d. Red.) Es gibt Dutzende von Musikern, die ähnliche Probleme haben.

Dauernd müssen kleinere Läden, die experimentelle Musik machen, aus finanziellen Gründen schließen, weil die Gema Druck macht. Tja, die Gema als Vernichtungsorganisation der Grundlagen von Musikern. Die Musiker, die Pianisten, die experimentelle, neue Musik machen, wo haben die noch eine Plattform? Gema und Behörden glauben, man müsse sich gar nicht um die kleinen Orte kümmern, weil es ein administrativer Mehraufwand ist.

Ich kann das nicht bezahlen, weil ich bisher diesen Ort ausschließlich aus eigenen finanziellen Mitteln quersubventioniert habe.

Aus Berlin selbst haben Sie aber nichts bekommen?

Nein. Während dieser ganzen Zeit habe ich viele Gesuche sowohl in der Schweiz als auch in Berlin, bei Stiftungen usw. eingereicht, um institutionelle Unterstützung zu bekommen. Ich kann eine erfolgreiche Arbeit vorweisen, positive Resonanz, große Nachfrage bei den Musikern, jahrelange Veranstaltungen mit regelmäßigem Publikum; das hat aber alles nichts geholfen.

Zuletzt habe ich es in diesem Jahr bei der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur eingegeben. Die Gema-Probleme laufen bereits über ein Jahr, und ich wusste, ohne öffentliche Unterstützung werde ich das nicht mehr tragen können. Es ging nur um 5.000 Euro im Jahr, einen läppischen Betrag, wovon ich die Gema bezahlen könnte, und ein bisschen Subvention fürs Programm! Weil ich mich sonst noch höher verschulden würde, als ich ohnehin schon bin, musste ich nun den Entschluss fassen, im Herbst 2007 diesen Veranstaltungsort aufzugeben.

Der Boom der alternativen Spielorte in Berlin Anfang des Jahrtausends ist beinahe wieder zum Stillstand gekommen. Weil es all diese Begegnungsorte gab, ist Berlin für internationale Musiker so attraktiv geworden.

Es gibt bei den Politikern überhaupt nicht das Bewusstsein, dass Berlin nur überleben kann, wenn es eine Kulturstadt bleibt, in der genau diese Freie Szene blüht. Das zieht jedes Jahr tausende Touristen an. Wenn man diesen Kern, diese lebendige Struktur voller Offenheit, im Keim erstickt, dann kann Berlin eigentlich zumachen. Es würden nur noch Diplomaten kommen. Auch wirtschaftlich ist es ein unglaublicher Schaden für die ganze Stadt, wenn man es darauf anlegt, die Freie Szene auszuhöhlen. Sie zu systematisieren und einzuordnen, und alles muss dann nach festen Richtlinien funktionieren. Das ist genau das, was man nicht will, wenn man als Tourist nach Berlin kommt.

Es sind ja ganze Reiseorganisationen, die ganzen Bevölkerungsschichten empfehlen: Geht in die Underground-Szene in Berlin, da läuft was, da wuchert es, da ist alles so lebendig! Politiker, Fördergremien, Gema, Kulturausschüsse müssen einfach mal ganz klar akzeptieren, dass die Freie Szene in Berlin schützenswert ist und dass man alles dafür geben muss, um kleine Orte aufrecht zu erhalten. Mit wenig Geld! Am Ende gibt’s sonst nur noch die MaerzMusik, die auch nicht von der Stadt, sondern vom Bund finanziert wird.

In der MaerzMusik und auch auf anderen Festivals läuft eine Menge Programm, das gar nicht entstehen könnte, wenn es Orte wie Stralau 68, das Ausland, das Kulturhaus Mitte oder das Labor Sonor nicht gäbe. Sogar bei den Donaueschinger Musiktagen stammt ein Teil eindeutig aus der Berliner Szene.

Die MaerzMusik kann für Berlin nur ein Publikumsmagnet sein, wenn sie sich aus der Freien Szene speist. Ich möchte jetzt im September, Oktober noch ein paar schöne Sachen machen, vor allem draußen, Installationen, Videoarbeiten, Projektionen, viel Tanz. Und die Musiker können danach noch anfangen zu jammen, bis drei, vier Uhr morgens.

Können Sie sich eine Form vorstellen, in der Stralau 68 Berlin als Veranstaltungsort erhalten bleiben kann?

Wenn ich vom Senat Geld bekommen hätte, würde ich weitermachen, aber sicher nicht mehr hier wohnen. Und man müsste noch einmal einiges investieren, um den Ort winterfest zu machen.

Könnte das eine Kooperative sein, die Stralau 68 mit Ihnen zusammen weiterführt?

Wenn sich Leute finden, die das Ding mieten und weiter experimentelle Musik hier veranstalten, dann könnte ich mich als Fremdveranstalter einklinken. Ich habe bereits Modelle errechnet und bin überzeugt, wenn jemand das ein bisschen gescheit anpackt und gut vorbereitet – mit der bestehenden Ideologie! –, kann das gut funktionieren, weil es schon einen Ruf hat, weil in der Umgebung eine Wiederbelebung stattfindet und der Standort immer attraktiver wird.

Dieter Eichmann ist Komponist und Pianist