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Archiv-Artikel

Schmerz und Todessehnsucht

CHROMATIK Auch im 16. Jahrhundert setzte man schon Gesangsstimmen dissonant gegeneinander: Im Radialsystem präsentiert das Gesualdo Consort Amsterdam im Rahmen des Musikfests Berlin die Musik der Renaissance als expressives Experimentierfeld

Unstet, fragil, zwischen ruhigem Wohlklang und aufgebrachter Stimmführung schwankend, ist diese Musik alles andere als „alt“

Carlo Gesualdo war ein Ehrenmörder. Die Geschichte gehört zu den spektakulärsten Details aus dem Leben des Komponisten, sodass sie am besten gleich vorweg erzählt wird: Gesualdo, Fürst von Venosa, erwischte im Jahr 1590 seine erste Ehefrau mit einem Liebhaber und tötete beide auf der Stelle, um, wie es heißt, den Namen seines Hauses zu retten. Trotz Gerichtsverhandlung kam er straflos davon.

Von dieser brutalen Begebenheit war am Mittwoch im Radialsystem wenig zu ahnen, als das Gesualdo Consort Amsterdam seinen Namensgeber in einem Konzert zusammen mit einigen Zeitgenossen vorstellte. Das sechsköpfige Vokalensemble sang zwar Madrigale, in denen ausgiebig die Qualen der Liebe und Todeswünsche als Erlösungsversprechen unglücklich-sehnsüchtiger Männer geschildert wurden, doch diese Gewaltfantasien blieben stets auf autoaggressiver Ebene.

Man mag von solch drastischem Ausdruck verzweifelter Leidenschaft halten, was man will, die Musik, zu der sich Komponisten wie Gesualdo, der als stark melancholischer Charakter galt, dadurch inspirieren ließen, spricht von weit mehr als ungestilltem Begehren. Unstet, fragil, zwischen ruhigem, fast flächigem Wohlklang und aufgebrachter, scheinbar wild durcheinanderlaufender Stimmführung schwankend, ist sie alles andere als „alt“. Dummerweise stammt sie aus einer Phase kurz vor dem Barock – samt Johann Sebastian Bach – und liegt damit vor der offiziellen Musikgeschichtsschreibung vieler Hörer.

Erfreulicherweise hatte man in diesem Konzert, das zum Programm des Musikfests Berlin gehörte, nicht den Eindruck, auf einer Expertenveranstaltung gelandet zu sein. Ein gesund gemischtes Publikum hielt die großzügige Bestuhlung fast vollständig besetzt und spendete ausgiebig Beifall. Auch wenn der geschichtliche Abstand zu diesen Werken recht groß ist (Gesualdo lebte von1566 bis 1613) und Madrigale eine etwas aus der Mode gekommene Form sind – es handelt sich um eine Art Kammermusik für Chor –, steckt eine Menge Fremdartig-Modernes darin.

Gesualdo gilt vor allem wegen der harmonischen Unberechenbarkeit seiner Werke als musikalischer Einzelgänger. Oft klingen seine Madrigale ganz danach, als wollte er die tonale Musik bewusst an ihre Grenzen bringen – was eigentlich erst im ausgehenden 19. Jahrhundert in großem Stil geschah. Mit diesen Innovationen, so konnte man beim Gesualdo Consort lernen, war er jedoch schon zu Lebzeiten in bester Gesellschaft. Ein Komponist wie Antonio de Metrio etwa, 24 Jahre nach Gesualdo geboren, setzte die Gesangsstimmen in seinem „Schmerzlichen Abschied“ (Partenza dolorosa) so dissonant gegeneinander, dass man kurzzeitig glauben konnte, jemand habe die Noten gegen ein Stück aus der Moderne vertauscht – aller schnörkellosen Schönheit der Darbietung zum Trotz.

Bei den Harmonien hatte man es oft genug mit „Consonanze stravaganti“, extravaganten Konsonanzen, zu tun, wie es im Titel eines der Instrumentalstücke hieß, die der Cembalist Pieter-Jan Belder als Zwischenspiele einstreute. Die Töne, die Belder aus seinem Instrument holte, waren in der Tat außergewöhnlich, auf einem konventionellen Klavier sucht man so etwas vergebens. „Miktrotonal“ würde man dazu heute sagen.

TIM CASPAR BOEHME