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Archiv-Artikel

Richter werden zu Experten für künstliche Kniegelenke

JUSTIZ Welche Krankenhäuser dürfen Knie-OPs durchführen? Den Streit zwischen Kliniken und Kassen entscheidet das Sozialgericht

Ein Krankenhaus im brandenburgischen Neuruppin zog vor das Landesgericht

BERLIN taz | Nicht Medizinexperten, sondern Juristen entscheiden zunehmend über die Gesundheitspolitik in Deutschland. In der umstrittenen Präimplantationsdiagnostik (PID) war es 2010 der Bundesgerichtshof (BGH), der mit seiner Entscheidung, dass die Gentests an Embryonen aus dem Reagenzglas zulässig seien, ein politisches Beben auslöste. Beim BGH ist auch seit Monaten ein Verfahren anhängig, in dem die Richter klären sollen, ob sich Kassenärzte wegen Bestechlichkeit strafbar machen können. Und in dem sehr aktuellen Streit über Kniegelenkprothesen wird nun das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel angerufen: Es soll abschließend feststellen, ob und ab welcher jährlichen Fallzahl Krankenhäuser und Kliniken in Deutschland befugt sein sollen, Kniegelenkoperationen durchzuführen.

Dazu hat sich am Donnerstagabend der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) durchgerungen, das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. „Bis die höchstrichterliche Entscheidung vorliegt, setzen wir unsere bisherige Mindestmengenregelung aus“, sagte der GBA-Vorsitzende Rainer Hess zudem. Die Mindestmengenregelung sah bislang vor, dass nur solche Kliniken Kniegelenk-Totalendoprothesen einsetzen dürfen, die mindestens 50 solcher Fälle pro Jahr nachweisen. Der GBA, in dem Vertreter von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern die Richtlinien für den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) festlegen, hatte die Regelung stets mit dem Wohl der Patienten begründet. Es gebe einen Zusammenhang zwischen der Anzahl von Kniegelenkoperationen, sprich ärztlicher Routine, und deren Qualität. Die Gefahr, dass sich das Knie nach der Operation versteife, sinke, je mehr Operationen eine Klinik durchführe. Umgekehrt sei die Infektionsgefahr umso größer, je weniger solcher Eingriffe eine Klinik pro Jahr mache.

Dies bedeute eine Diskriminierung von Kliniken, die zwar weniger als 50 Fälle pro Jahr behandelten, aber hierfür qualifizierte Spezialisten bereithielten, argumentierte ein Krankenhaus im brandenburgischen Neuruppin und zog vor das Landesgericht (LSG) Berlin-Brandenburg. Erfolgreich: Mitte August erklärte das LSG, das bundesweit für Streitfälle dieser Art zuständig ist, die Vorschrift für unwirksam. Aus Sicht des Gerichts konnte der GBA nicht nachweisen, dass durch die Mengenvorgabe automatisch auch die Qualität einer Operation gewährleistet ist (AZ L7KA77/08KL). Der GBA-Vorsitzende Hess sagte, er sei „optimistisch“, dass das Bundessozialgericht das Urteil des Landessozialgerichts kippen werde. Er halte an der Überzeugung fest, Mindestmengen zur Grundlage der medizinischen Qualitätssicherung vorzuschreiben.

Die bisherige Rechtsprechung sieht das anders: Bereits im Januar hatte das LSG Berlin-Brandenburg eine Regelung vorläufig aufgehoben, nach der Frühgeborene nur noch von besonders erfahrenen Kliniken mit mindestens 30 Fällen pro Jahr versorgt werden dürfen. Auch hier waren die Klagen mehrerer Kliniken im Eilverfahren erfolgreich.

HEIKE HAARHOFF