Last Exit Coney Island

Mit der Amüsiermeile am Atlantik ist nicht mehr viel los. Die Ruhe vor dem Schluss

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Unter dem Boardwalk türmt sich der Sand, gespickt von Papptellern, Bierbüchsen und Büscheln von Dünengras. Ein Zaun sorgt seit einiger Zeit dafür, dass der legendäre New Yorker Strand von Coney Island hier Halt macht und nicht mehr in die Straßen des äußersten New Yorker Stadtbezirks hinausweht. Aber er verhindert auch, dass es heute unter dem Boardwalk nicht mehr so zugeht wie vor vierzig Jahren, als The Drifters ihren berühmten Sommerhit über den Boardwalk schrieben. Zu Tausenden suchten damals junge Pärchen auf den zwei Meilen zwischen Coney Island und Manhattan Beach unter den Brettern Schutz vor der Sonne, sie krochen unter eine Decke und ließen zum Geruch von Hot Dogs und Fritten sowie zum Klackern der Fußabsätze über ihnen ihrer jugendlichen Lust freien Lauf. „Under the Boardwalk / Out of the Sun / Under the Boardwalk / we’ll be having some fun / Under the Boardwalk / People walking above / Under the Boardwalk/ we’ll be making love …“

Unter dem Boardwalk fand damals das Treiben von Coney Island seinen sommerlichen Höhepunkt und mancher New Yorker Teenager die Liebe fürs Leben. Heute verirren sich höchstens streunende Hunde und Obdachlose unter die Bretter.

Bill Pinkney starb als letztes Originalmitglied der Drifters am 4. Juli 2007, 81-jährig, in einem Hotelzimmer in Daytona Beach in Florida. Weit weg von New York. Das Coney Island der Fünfziger, das er 1964 besang, war da schon lange tot. 1966 brannte mit dem „Steeplechase“ der letzte der ursprünglich drei großen Vergnügungsparks von Coney Island nieder. Der Brand war der Beginn des Abstiegs von Coney Island zu dem armseligen Überrest seiner glamourösen Vergangenheit, der es heute ist. Damals, in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als es Amerika insgesamt und speziell New York so gut ging wie nie, kamen im Sommer am Wochenende die Menschen zu Millionen mit der U-Bahn aus dem siedenden und stickigen Manhattan, um hier am Atlantik, der damals einzigen Klimaanlage der Stadt, Linderung und Ablenkung zu finden: eine Achterbahnfahrt, ein Bier, ein Besuch bei der bärtigen Dame in der Freak-Show, ein Flirt in einer der vielen Tanzhallen. Wenn man Glück hatte, ein Stelldichein unter den Brettern.

Heute ist der einst meilenlange Amüsierstreifen entlang des Boardwalk auf 400 Meter zusammengeschrumpft. Da ist im Westen an der 17. Straße die vernagelte Ruine des ehemals vornehmen Child’s Restaurant. Dann kommt ein knappes Dutzend baufälliger Backsteinbuden, deren rührend dilettantischen, von Hand gemalten Schilder Bier, Eis, Fritten und frische Muscheln anpreisen. Dahinter das alte Riesenrad und die beängstigend knarzende, achtzig Jahre alte Achterbahn. Dazwischen Brachland mit Efeu-übersäten Mauerresten. Auf einem der leeren Grundstücke hat die Stadt ihre reparaturbedürftigen Schulbusse geparkt.

Nach diesem Wochenende wird es wohl auch mit diesen Überresten des alten Coney Island zu Ende sein. Der 3. September ist offizieller Schluss der Badesaison, und niemand hier in Coney Island weiß im Moment, wie und ob es im kommenden Jahr weitergeht. Fest steht nur, daß Joe Sitt, ein Damenkonfektionsmilliardär, sämtliche Grundstücke am Boardwalk entlang aufgekauft hat und für seine Milliardeninvestition mit Sicherheit eine satte Rendite erwartet. Sicher ist auch, dass eine solche Rendite mit der Pacht etwa der spelunkigen Ruby’s Bar oder der Spielautomaten-Arkaden im Astroland-Rummelplatz, dem kümmerlichen Erben von Luna-Park, Dreamland und Steeplechase, nicht zu realisieren sein wird. Von Hotelburgen, Luxuswohnungen und einem Entertainment-Komplex im Las-Vegas-Stil wird deshalb gemunkelt.

Der Wandel in Coney Island ist überfällig, das weiß man am Boardwalk schon lange. Frank Gluska, seit 26 Jahren Barkeeper im Ruby’s, nimmt es deshalb gelassen. „Weißt du, es ist wie mit deiner Großmutter“, sagt er, während er am vorletzten Sonntagnachmittag der Saison im finsteren Schankraum für die zumeist älteren Trinker die Hausmarke „Ruby’s Amber“ zapft. „Sie ist alt und gebrechlich und du weißt, dass sie es nicht mehr lange macht. Es tut weh, aber man ist darauf vorbereitet.“ Dann wischt der pausbackige Mann mit dem schweren Brooklyner Akzent den modrigen Tresen ab und richtet eines der hunderte von vergilbten Fotos vom alten Coney Island, die an die Wand hinter der Theke gepinnt sind. Aus der Jukebox tönt eine Schnulze von Tony Bennett. Der Laden verströmt das nostalgische Flair eines New York, das es anderswo schon lange nicht mehr gibt.

Weil dieses New York in Coney Island aber wenigstens noch etwas am Leben ist, wird die Debatte um die Zukunft der paar hundert Meter Boardwalk zwischen dem Skelett des alten stillgelegten Fallschirm-Sprungturms – eine der Attraktionen der alten Tage – und dem New Yorker Aquarium so leidenschaftlich geführt. Es geht um weit mehr als nur um ein paar Buden und einen Strandabschnitt für arme Leute. Es geht um das letzte Reservat eines New York, dem mit der Luxussanierung auch der hintersten Winkel der Stadt und mit der obszönen Verteuerung des Lebens in den vergangenen zwanzig Jahren gnadenlos der Garaus gemacht worden ist.

„Coney Island ist die letzte Zuflucht der einfachen Leute“, sagt der Coney Island-Historiker und Autor Charles Denson, der hier aufgewachsen ist. Und die einfachen Leute sind die, um die es laut Denson nicht nur in Coney Island, sondern in ganz Amerika gehen sollte: um jene „müden, armen, gedrängten Massen, jenen elenden Abschaum, der von fernen Küsten“ hier angespült wurde, wie es in dem berühmten Gedicht von Emma Lazarus heißt, mit dem an der Freiheitsstatue seit Generationen die Einwanderer begrüßt werden. Sie sind Coney Island, sie sind New York, sie sind Amerika. Nicht die gut verdienende und überwiegend weiße Mittelschicht, die zunehmend alles an sich reißt. Coney Island ist die letzte Bastion der Prollkultur dieser gedrängten Massen, einer Kultur, die man vor zwanzig Jahren noch überall in der Stadt finden konnte – in den irischen und italienischen Arbeiterkneipen, am Times Square oder rund um den Port-Authority-Busbahnhof, an der Lower East Side oder in den Tanzschuppen von Harlem. Sie ist lärmend, halbseiden, schlagfertig und clever, ebenso hartgesotten wie letztlich liebenswürdig und vor allem eines – multikulturell. „Das ist der verdammte Schmelztiegel hier“, sagt Jorge, ein Latino-Bademeister mit gestähltem Oberkörper und Surfer-Mähne, während er nur hundert Meter von Ruby’s entfernt auf seinem Hochsitz hockt und aufmerksam die spielenden Kinder im flachen Wasser beobachtet. „Du hast hier die puerto-ricanischen Familien, da drüben die Schwarzen, die mexikanischen Fischer da oben am Pier, da hinten die Russen und dazwischen die Hipster aus dem Village. Jeder ist hier.“

Doch es geht die Angst um in Coney Island, dass diese Kultur nun auch noch von hier verdrängt wird – zugunsten derselben keuschen und keimfreien Konsumkultur, die sich überall breitmacht: Markenboutiquen, Starbuck’s und Fastfood-Ketten statt fliegender Hotdog-Händler, illegaler Bratfischverkäufer und Ruby’s. Sowie vielleicht ein Coney-Island-Themenpark als seelenloses Abziehbild des einstigen Originals an gleicher Stelle. Einige geben sich noch kämpferisch, wie die dicke Terry mit dem grell rosaroten Lippenstift und der farblich dazu passenden Mütze, die am Boardwalk Muscheln und Fritten verkauft: „Ich bin im April wieder hier, darauf kannst du deinen Arsch wetten“, sagt sie. „Wir überlassen Coney Island nicht den Reichen.“ Andere haben hingegen resigniert, wie Angi, bei der gleich hinter Ruby’s Kinder für einen Dollar Plastikenten aus einem künstlichen Teich fischen und dabei Teddybären gewinnen können. „Ich mache gerade meinen Führerschein, um Schulbusse fahren zu dürfen. Ich habe nach vierzehn Jahren genug. Mir tut es nur um die Leute leid, die sich hier amüsieren können, ohne dass sie nachher pleite sind. Wo sollen die denn in Zukunft hin?

An der Surf Avenue, die parallel zum Boardwalk hinter dem Strand verläuft, sitzt Dick Zigun, der inoffizielle Bürgermeister von Coney Island, vor seinem Theater. Der gelernte Regisseur betreibt hier seit dreißig Jahren eine „Sideshow“, ein Kuriositätenkabinett mit Nagel- und Feuerschluckern und Kontortionisten – Schlangenmenschen, wie sie in Coney Islands Frühzeit in den Zwanzigern Mode waren. Ihm kann keiner vorwerfen, dass ihm nichts am alten Coney Island liege. Aber vor dem, was nun bevorsteht, hat der bärtige Mittfünfziger mit der Nickelbrille kapituliert. „Es hat keinen Sinn, gegen den Kapitalismus anzukämpfen“, sagt er philosophisch. Jeder müsse sehen, wo er bleibt. Er selbst, das steht allerdings fest, bleibt hier. Gerade hat er das Haus gekauft, das seine Sideshow und sein Coney-Island-Museum beherbergt. Das Coney Island der Außenseiter wird wenigstens hier weiterleben. Als das, was es ohnehin schon längst ist: als Freak-Show.

SEBASTIAN MOLL, Jahrgang 1964, lebte Ende der Achtziger als Student und jetzt wieder seit 2002 als freier Journalist in New York. Mit den Veränderungen, welche die Stadt in der Zwischenzeit durchgemacht hat, kann er sich bis heute nicht recht abfinden. Vielleicht fühlt er sich deshalb bei Ruby’s am Boardwalk so wohl