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Archiv-Artikel

„Die Unsicherheit ist sichtbarer“

WANDEL Beral Madra ist die bedeutendste Kunstkritikerin und Kuratorin der Türkei. Ein Gespräch über den Aufstieg des politischen Islam, Erdogans Weißen Palast und die boomende Kunstmetropole Istanbul

Kunst und Politik

■ Die Frau: Die Kuratorin und Kritikerin Beral Madra, geboren 1942 in Istanbul, gilt als eine der Gründungspersönlichkeiten der neuen Kunstszene der Türkei. 1987 und 1989 kuratierte sie die 1. und 2. Istanbul-Biennale. 2007 erschien ihr Buch „Maidan“. 2009 kuratierte sie den Zentralasiatischen Pavillon auf der Biennale von Venedig, 2010 besorgte sie die Sektion Bildende Kunst im Programm „Istanbul – Kulturhauptstadt Europas“. 2014 kuratierte sie die Canakkale-Biennale.

■ Die Politik: Recep Tayyip Erdogan ist seit August 2014 Präsident der Türkei, zuvor war er seit 2003 deren Ministerpräsident. Er hat die „Neue Türkei“ ausgerufen, mit der die alte, autoritäre kemalistische Republik abgelöst und eine progressive Demokratie verwirklicht werde. Beobachter sehen ein Abdriften der Türkei in einen neuen Autoritarismus. Die Indizien: Polizeigewalt, Einschränkungen der Pressefreiheit, Säuberungswellen in der Bürokratie, europafeindliche Rhetorik.

VON INGO AREND (GESPRÄCH) UND BARIS PAKSOY (FOTO)

taz: Frau Madra, erinnern Sie sich noch an das Jahr 2002?

Beral Madra: Zu der Zeit war ich viel mit Ausstellungen und Kuratieren beschäftigt, nicht so sehr mit Politik. Als Mitglied der Initiative Anadolu Kültür habe ich damals für das Zentrum für zeitgenössische Kunst in Diyarbakir gearbeitet.

In diesem Jahr wurde Recep Tayyip Erdogan zum türkischen Ministerpräsidenten gewählt, die konservative AKP kam an die Macht. Wie haben Sie das in Erinnerung?

Der Wechsel der politischen Parteien hat für uns nie etwas Visionäres bedeutet. Trotzdem gab es eine gewisse Hoffnung. Kein Utopia; aber wir dachten, es würde einmal eine andere Klasse von der Regierung profitieren. Ich selbst habe drei Militärputsche miterlebt, diverse undemokratische Regierungen mit Tendenz zum Faschismus. Ich glaubte damals an eine Änderung, weil sich die Welt seit 1989 geändert hatte. Sagen wir so: Es gab eine Erwartung.

Misstrauten Sie damals den Zielen der AK-Partei?

Ich war immer allen Parteien misstrauisch gegenüber. Meine Familie war sehr in der Politik involviert. Mein Großvater, ein Sozialist, war Politiker zwischen 1930 und 1960. Er war in verschiedenen Regierungen Finanz- und Verteidigungsminister. Ich wusste, wie es im politischen System der Türkei zugeht. Und ich war misstrauisch, weil ich den Aufstieg der islamischen Ideologien seit den 80er Jahren beobachtete. Die türkische Politik wandte sich schon unter dem Putsch-General von 1980, Kenan Evren, dem Islam statt dem Säkularismus zu.

Beunruhigte Sie der Aufstieg des politischen Islam?

Nicht nur. Wir dachten auch, dass der Islam etwas hat, was wir vom Sozialismus erwarteten. Zu seinen Inhalten gehören ja Werte wie Gleichheit, Teilen, Bescheidenheit. Es gibt keine Hierarchie im Islam. Diese Prinzipien habe ich jedenfalls vom Islam gelernt. Ich dachte, wenn diese Leute den Islam in diesem Sinne benutzen, säubern wir die Politik vielleicht von diesem faschistischen, hierarchischen Regierungsmethoden. Wenn Sie sich die Grundprinzipien des Islam anschauen, können Sie – zumindest metaphorische – Ähnlichkeiten mit dem Kommunismus erkennen. Zu der Zeit hatten die islamische Bewegung in der Türkei übrigens auch Ratgeber von den alten kommunistischen Gruppen.

Fühlen Sie sich angesichts der AKP-Politik heute in Ihren frühen Vorbehalten bestätigt?

Nein. Denn diese – sagen wir: kommunistischen – Ideale des Islam sind in den neokapitalistischen Ambitionen des politischen Islam in der Türkei untergegangen. Die Regierung hat die Ressourcen der Türkei benutzt, um in das globale kapitalistische System aufzusteigen. Sie haben die Ziele des Islam wie eine Vitrine benutzt. Dahinter agierten sie neokapitalistisch.

In der Anfangszeit verfolgte die AKP ja durchaus eine liberale Politik …

Am Anfang waren sie schlau genug, der Wirtschaftspolitik von Kemal Dervis zu folgen, der vom UN-Entwicklungsprogramm UNHDP kam. Das dynamisierte die Wirtschaft. Turgut Özal hatte dafür schon ab 1985 den Grundstein gelegt. Der Staatskapitalismus transformierte sich langsam neoliberal, der Staat verlor dabei aber auch seine ökonomische Macht, nahm weniger Steuern ein. Die Kehrseite dieser rapiden kapitalistischen Beschleunigung: 10.000 Arbeiter starben bei Arbeitsunfällen in den letzten zehn Jahren. Ganz Istanbul ist eine Baustelle. Schauen Sie sich die Fotografien der Stadt aus den dreißiger Jahren an. Dann können Sie ermessen, was hier vorgeht.

Aber reicht das, um den Aufstieg der AKP zu erklären?

Es ist sehr schwer zu sagen, wer die Regierung wirklich wählt. Im Wahlkampf gilt, dass die Leute Angst vor Veränderung haben. Viele arme Menschen sind in die untere Mittelklasse aufgestiegen. Sie sind zwar nicht reich, können aber konsumieren, haben Kreditkarten. Diese Klasse hat Angst, ihre Position zu verlieren.

Wie beurteilen Sie die Lage der Kultur in der Türkei?

Das Bild des türkischen Kunstbooms ist ein Trugbild. Wenn Sie sich die zeitgenössische Kunst ansehen, gibt es die eigentlich nur in Istanbul. Das ist ein großes Strukturproblem. Dann: In der Türkei leben 70 Millionen Menschen, in der Mehrheit junge, sehr kreative Menschen. Und deren kreative Visionen werden nicht von der Regierung unterstützt. Die öffentlichen Gelder sind in den Händen des Kulturministeriums. Das entscheidet alles in einem Gebäude in Ankara. Die Kultur der Türkei basiert hauptsächlich auf dem Tourismus. Aber überwiegend im ottomanischen Bereich. Sie blenden das byzantinische, hellenistische Erbe vollständig aus. Andererseits bezweifle ich, dass das Ministerium versteht, wie das ottomanische Erbe wiederbelebt werden sollte. Die Beispiele für den Genius der ottomanischen Kultur in Istanbul sind alle zerstört. Am Üsküdar-Platz können Sie nicht einmal mehr die Moscheen sehen. Dasselbe gilt für die historischen Stadtteile Eminönü und Sultanahmet.

Und das generelle Klima?

Die Kultur ist komplett privatisiert. Die türkischen Künstler müssen mit Sponsoren, Geschäftsleuten, Sammlern und privaten Galerien verhandeln. Sie erhalten kein öffentliches Geld, um ihre Kunst zu entwickeln. Aber nach dem Korruptionsskandal im letzten Dezember hat die ganze Türkei verstanden, dass die regierende Partei sich nicht am islamischen Wert der Bescheidenheit orientiert, sondern hier ein Klima der Korruption herrscht. Das war ein psychologischer Wendepunkt.

Ist jetzt die große Depression ausgebrochen?

Noch sind wir nicht in der ganz großen Depression. Aber es gibt eine kleine. Seit Erdogan Präsident wurde, ist die Unsicherheit sichtbarer. Die echten Anhänger der AKP, ich schätze sie in der ganzen Türkei auf 30 Prozent, würden natürlich nie von ihrer Regierung abfallen. Die restlichen 70 Prozent zerfallen in alle möglichen politischen Haltungen. Es eint sie aber der Glaube, dass die Türkei nicht gut regiert wird. Es gibt auch Risse in der AKP. Aber sie zeigen es noch nicht. Es kann dort nicht nur Heuchler geben, es muss auch eine Gruppe geben, die an den richtigen Islam glaubt. Vor allem, nachdem Erdogan sich jetzt diesen Palast gebaut hat.

Wofür steht Erdogans „Aksaray“?

Es ist der groteske Traum eines Mannes von Moderne, Demokratie und ottomanischer Kultur. Wobei ich die Schuld nicht Erdogan alleine gebe. Den Palast haben doch Architekten gebaut. In welcher Welt leben die? Vor allem aber wollte Erdogan das Image Atatürks überwinden. Der Raum, auf dem jetzt der Palast steht, hatte Atatürk als öffentliche Farm geschaffen. Jetzt ist es sein Haus, sein Weißes Haus, Aksaray, eine wahrhaft Lacan’sche Situation.

Was würde der französische Psychotherapeut Jacques Lacan dazu sagen?

Schizophrenie. Es passt überhaupt nicht zu den Bedürfnissen der Türkei heute oder zu denen Europas. Zu Zeiten der ökonomischen Depression ist Bescheidenheit wieder gefragt.

Die AKP hat die Alkoholgesetze verschärft, ein Kussverbot für junge Leute in der Öffentlichkeit verhängt, diskutiert über ein Lachverbot für Frauen. Was kommt als nächstes im Staate Erdogan?

Als nächstes kommt die Polizeireform, die eine Parteipolizei schaffen wird. Erdogan und seine Regierung haben ein Gesetz vorbereitet, nach der die Polizeiakademie abgeschafft wird. Da wird eine neue Generation junger Polizisten rekrutiert, ohne eine akademische Ausbildung in einem demokratischen System zu bekommen. Das ist gefährlich. Was könnte danach noch kommen? Wahrscheinlich werden sie alle Frauen in der Türkei auffordern, sich zu verschleiern.

Droht der Türkei nach der Atatürk’schen jetzt die islamische Erziehungsdiktatur?

Ja. Sie instrumentalisieren den Islam, um eine Art Faschismus zu etablieren, eine verschärfte Art von Diktatur. Der ursprüngliche Islam favorisiert aber keine Diktatur. Wir treten in einen Neofaschismus des 21. Jahrhunderts ein. Natürlich hat der Faschismus viele Gesichter, Erdogans Staatsfantasie ist eines dieser Gesichter.

Relativieren Sie mit diesem Begriff nicht den Holocaust?

Nein. Ich erinnere nur daran, dass in unserer Geopolitik viele Minoritäten Mikro-Holocausts erlitten haben. Dieses lange unterdrückte Bewusstsein kehrt jetzt zurück. Es manifestiert sich als Aufstand und im Extremfall leider als Terror. Die Trauerfeier für den ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink war ein Zeichen dafür. Jeder einzelne Tote wird jetzt als Metapher für diese Holocausts verstanden und aufgerufen.

Den Kunstbetrieb scheint die Lage im Lande nicht zu beunruhigen. Er feiert weiter seine Vernissagen und Kunstmessen …

Der Kunstbetrieb zerfällt in zwei Lager. Eine Gruppe arbeitet für den Kunstmarkt und die reichen Leute. Die andere Gruppe arbeitet für die Gesellschaft, die Demokratie und beschäftigt sich mit sozialen und kulturellen Problemen der Türkei. Sie arbeitet für die Öffentlichkeit, die sich keine Kunst kaufen kann. Viele Künstler ziehen sich aus dem kommerzialisierten System zurück. Sie arbeiten im Internet, veröffentlichen in Blogs.

Gibt es in der Türkei noch Kunst- und Meinungsfreiheit?

Noch. Aber sie ist bedroht. Es gibt in dem neuen Polizeigesetz zum Beispiel einen Artikel, der vorsieht, dass die Politik einen Menschen, den sie für „potenziell gefährlich“ hält, verhaften kann. Das ist gefährlich.

In den neunziger Jahren gab es einen engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Kunst und der demokratischen Öffnung der Türkei. Ist dieser Zusammenhang nach der Niederlage bei Gezi aufgelöst?

Kunst, wie sie damals entstand, gibt es noch, aber Sie sehen sie jetzt nicht mehr. Wissen Sie, warum? Weil es in der Stadt keine Räume mehr gibt, in denen sie gezeigt werden könnte.

Die Stadt erlebte aber doch einen Boom neuer Kunstinstitutionen. Es gibt viele neue Galerien, es wird viel politische Kunst gezeigt …

Viele Kuratoren und Künstler, die nach Istanbul kommen, gehen zu diesen Institutionen. Aber das sind Räume großer Firmen. Die machen Ausstellungen, aber sie haben ihre eigene Agenda. Sie würden niemals Kunst von Dissidenten ermutigen. Solche, die sich kritisch mit dem auseinandersetzt, was in der Stadt vorgeht. Es gibt diese Institutionen auch nur in zwei Distrikten in Istanbul. Was ist mit den anderen 39 Distrikten? Dort passiert nichts. Denn die Kommunalverwaltungen in diesen Distrikten werden niemals erlauben, Installationen, Videos oder Performances zu zeigen, die den Status quo kritisieren.

Und die Istanbul-Biennale?

In der Biennale gab es noch keine Zensur. Auch die ausländischen Künstler konnten dafür Kunstwerke produzieren, die die Türkei kritisierten. Die letzte Biennale wurde zwar von 350.000 Menschen besucht. Das klingt viel. Aber was ist das in einer 15-Millionen-Stadt? Von einem öffentlichkeitswirksamen Effekt kann man nur sprechen, wenn 10 Prozent der Bevölkerung sie besucht hätten. Das wären 1,5 Millionen.

Kürzlich wurde bekannt, dass die Regierung den Gezi-Park offenbar doch bebauen lassen will. Glauben Sie, dass die Protestbewegung wieder aufersteht?

Gezi kann sich nicht in derselben Form wiederholen, zu viele Menschen wurden bestraft und haben gelitten. Entscheidend wird die Parlamentswahl im nächsten Frühling werden. Die Bevölkerung und die Oppositionsparteien müssen zusammen einen demokratischen Prozess organisieren. Auch wenn diese Parteien jetzt noch verfeindet sind.

Im Jahr 2023 feiert die türkische Republik ihren 100. Geburtstag. Die Vision Erdogans für dieses Datum ist eine Nation von 100 Millionen gläubigen Muslimen, die nicht rauchen und trinken. Was ist Ihre Vision?

2023 werde ich 81 Jahre alt sein. Wer weiß, ob ich da noch lebe. Ich halte nichts davon, in die Zukunft zu blicken, ohne sich um die Vergangenheit zu kümmern. Die Türkei hat sich ihrer Vergangenheit noch nicht in einer Weise gestellt, die zu echter Demokratie führt. Wir haben unsere Geschichte des 20. Jahrhunderts noch nicht angemessen interpretiert. Wenn wir das in den nächsten vier, fünf Jahren nicht tun, sind wir dazu verdammt, diese Geschichte zu wiederholen. Und 2015 wird eine heikles Jahr: Da jährt sich der Genozid an den Armeniern.

Ihr Motto ist also: Die Vergangenheit aufarbeiten, um die Zukunft zu gewinnen?

Genau. In Istanbul sollen 2017 drei große neue Sammler-Museen eröffnet werden. Aber wir haben noch nicht einmal ein Museum der Geschichte Istanbuls oder ein Nationalmuseum. Museen sind Erinnerungscontainer. Ein Thema dort müsste die Situation der Migranten hierzulande sein. Meine Familie ist eine Familie von Immigranten: Sie kamen aus dem Kaukasus, von der Krim. Während des 20. Jahrhunderts sind viele Menschen in die Türkei eingewandert. Es sind aber auch viele brutal hinausgeworfen worden. Dass müsste gezeigt werden. Wenn diese neuen Museen sich darum nicht kümmern, werden sie nichts als Dekoration sein.

Ingo Arend schreibt für die taz über Kunst und Politik. Das Gespräch führte er bei der jüngsten Kunstmesse in Istanbul