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Archiv-Artikel

Astrid Lindgren revisited

Das Wunderliche, das Grausame, die Trauer und die Wut: In Hamburg haben junge Illustratoren die schwedischen Kinderbuchklassiker neu bebildert. Die Zeichnungen zeigen Lotta, Michel und die anderen Helden von ihren dunklen Seiten

VON DANIEL WIESE

Vielleicht sind die Filme schuld, deren Bilder sich eingebrannt haben, unauslöschlich. Pippi Langstrumpf mit Sommersprossen, in der schwedischen oder auch Südsee-Sonne, mit einem Lachen im Gesicht. Der freche Michel aus Lönneberga. Die fröhlichen Kinder von Bullerbü. Es ist eine heitere Welt, sie duftet auf ewig nach Sommer und Blaubeerkuchen, und Astrid Lindgren hat sie gemacht.

„Die Rezeption ist ziemlich dicht“, sagt Bernd Mölck-Tassel, Professor an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Abteilung Buchillustration. Mit „dicht“ meint Mölck-Tassel die Bilder, die von Astrid Lindgrens Kinderbuchklassikern kursieren. Insbesondere bei Pippi Langstrumpf sei es fast hoffnungslos, meint der Professor, dessen Illustrations-Abteilung schon viele Preise gewonnen hat. Hamburg gilt als Mekka der Kinderbuch-Illustration.

Mölck-Tassels Studenten haben bei ihrem Versuch, Astrid Lindgren neu zu bebildern, einen großen Bogen um Pippi gemacht – und sind dabei auf die dunklen Seiten von Astrid Lindgren gestoßen. Bei den Brüdern Löwenherz liegt das noch nahe – die Geschichte von dem älteren Bruder, der sich für den jüngeren opfert, nur damit der ihm nachfolgt, ist todtraurig.

Doch selbst in der vermeintlich heiteren Figur eines Michel aus Lönneberga haben die Studenten Züge entdeckt, die überhaupt nicht niedlich sind. „Im Vordergrund stand die Überlegung, dass Michel ein garstiges kleines Kind ist“, sagt Jan-Hendrik Holst, 25. Er trägt ein T-Shirt, das in als Sympathisant der Graffiti-Szene ausweist. Sein Michel sieht aus, als sei er zu Bösem fähig, die Augen haben keine Pupillen, der Mund zeigt Zähne, die beißen wollen, und die Flinte aus Holz ist eine fiese kleine Kanone. Wenn Michel die Suppenschüssel zerdeppert, in der sein Kopf steckt, hängt ihm die Zunge heraus, als würde er stranguliert. „Öff“, röchelt Michel, „Na bitte“, sagt der Arzt, der sich über ihn beugt.

Hemmungslos haben die Studenten der Buchillustration die Kunstgeschichte geplündert, an Otto Dix erinnern Holsts Michel-Bilder, an alte Meister, womöglich Rembrandt, die Sterbeszene aus „Ronja Räubertochter“ von Steffen Henning. Tot liegt der Großvater an der unteren Bildkante, das Gesicht abgeschnitten, der Räuberhauptmann ist verzweifelt, die Mutter blickt wissend in die Ferne und die kleine Ronja schaut, als würde sie eine Ahnung beschleichen von der Macht des Todes.

Selbst an sich banale Szenen wie der Versuch der Lindgren-Figur Lotta, sich einen Pullover anzuziehen, können zu einem Drama werden, zu einem Kampf in Popart-Farben, den die Studentin Si-Ying Fung zeichnet, als würde sie die Szenen aus wechselnden Perspektiven mit dem Handy fotografieren. Die Angst ist in ihren Zeichnungen festgehalten, die Angst vor dem Verlorengehen, der Kopf geht unter, die Möbel drehen sich. Ihre Zeichnungen halten das sachlich fest, Mitleid war gestern.

Im November würde Astrid Lindgren hundert Jahre alt werden, doch ob sich die Ideen, die in der kleinen Hamburger Ausstellung zu besichtigen sind, in eventuellen Neuauflagen ihrer Bücher wiederfinden, ist sehr die Frage. „Die Verleger in Deutschland sagen zu meinen Schülern oft, das sei zu künstlerisch“, sagt Professor Mölck-Tassel. Er zuckt die Schultern. So sei eben der Markt, damit müsse man leben.

Die Ausstellung „Ein neuer Blick auf Astrid Lindgren“ eröffnet am Freitag, 7. September, 16.30 Uhr im Foyer der Katholischen Akademie Hamburg