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Archiv-Artikel

Unter 10.000 Ameisen und ein paar Spinnen

KUNST Es krabbelt in der Schau „Influants“: Der Künstler Pierre Huyghe lädt zu unvorhersehbaren Begegnungen ein

Wer die aktuelle Ausstellung in der Galerie Esther Schipper besuchen möchte, muss am Eingang einem Mann seinen Namen nennen. Erst dann öffnet dieser die Tür und kündigt den zuvor mitgeteilten Namen gut hörbar an. Das kann witzig sein, wenn Freunde, die den Raum bereits betreten haben, sich nach einem umdrehen und man sich begrüßt fühlt, oder auch peinlich, weil man lieber – wie normalerweise üblich – anonym bleiben möchte. Auf diese Weise aber wird man wie auf einer Bühne präsentiert und ist unweigerlich Teil eines Szenarios. Die Räumlichkeit erscheint allerdings so leer, dass die Besucher sich durch ihre Ankündigung zwar mit einer Situation konfrontiert fühlen, aber erst einmal unklar ist, worum es sich handelt.

Der Blick wandert suchend den Fußboden und die weißen Wände entlang, bis er verblüfft innehält: Die überaus agilen Geschöpfe eines lebendigen Ameisenvolkes laufen frei in den Galerieräumen herum. Anfangs mag sich nur eine besonders flinke Ameise zeigen, schließlich aber wimmelt es nur so von geschäftigen Tierchen.

Pierre Huyghe hat 10.000 Ameisen der Polyrhachis-dives-Familie für die Zeit seiner Ausstellung eingeladen, dieses Terrain zu bevölkern. Doch sie sind nicht allein. Es gibt noch andere Kleinlebewesen, die Teil der Ausstellung sind. Sie sitzen größtenteils oben an den Ecken der Wände, kurz bevor die Decke beginnt. „C. C. Spider“ nennt Huyghe die ausgewählten Hausspinnen als Anspielung auf CCTV, Überwachungskameras, die sich an dieser strategischen Position befinden, wobei C. C. als Abkürzung für „ceiling corner“ gedacht ist, also jene Gegend bezeichnet, in der Spinnen mit Vorliebe ihre Netze spannen. Vielleicht entscheidet man sich nach diesen Entdeckungen, schnell wieder zu gehen, weil man keine Krabbeltiere mag, oder man ist neugierig geworden und beginnt das Treiben genauer zu beobachten.

„Influenced“, die vierte Arbeit der Schau, ist allerdings unsichtbar. Sie wird von jemandem getragen, der in der Galerie für die Kunstvermittlung zuständig ist. Nur wenn wir mit dieser Person sprechen, oder auf dem ausgelegten Informationsblatt die Werkbeschreibung lesen, werden wir erfahren, dass es sich um einen Grippevirus handelt. Und dann?

Beeinflussen könnte uns diese Arbeit auch ohne unser Wissen, sie könnte aber auch nur ein Spiel mit einer möglichen Erscheinung sein; mit einer Begebenheit, die wir vielleicht lieber umgehen möchten, da ihr Ausgang unvorhersehbar ist.

Doch genau darum geht es Pierre Huyghe. Mit seiner Zusammenstellung begibt er sich auf die Suche nach Formen der Begegnung, die nicht absehbar sind. Er hat eine heterogene Situation geschaffen, die keiner nachvollziehbaren Erzählung folgt. Es kann sogar sein, dass die Bewohner unsere Anwesenheit gar nicht bemerken, oder beobachten uns die Spinnen von ihren strategischen Posten aus? Gibt es überhaupt eine bewusste Interaktion? Zumindest können wir uns entscheiden, vorsichtig zu sein und um die Ameisen „zu tanzen“, wie Huyghe das gerne nennt, oder sie zu zertreten.

Daneben gibt es eine Stimmung, der man folgen kann: „Es gibt die Möglichkeit, seine Erwartungen und seine Aufmerksamkeit in einen anderen Gang zu schalten“, meint Huyghe. Dabei könne es fast passieren, dass man sich wie hypnotisiert fühle, wenn man sich der Faszination der Bewegungsabläufe der Ameisen hingebe, ihnen folge, wie sie auf dem Weg zu ihrem Bau die Wand in einer Linien hochlaufen. Auf eine humorvolle und poetische Art kreiert Huyghe mit seinen ausgewählten Darstellern sehr gelungen eine Kunst jenseits der Repräsentation, die in der Tat aus einem sich ständig bewegendem Set an Koordinaten besteht.

JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

■ Pierre Huyghe: „Influants“. Galerie Esther Schipper, Schöneberger Ufer 65, bis 22. Oktober