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Archiv-Artikel

„Bier sind das Volk“

LEGIDA Die Populisten in der Messestadt stehen deutlich weiter rechts als das Dresdner Original. Überwiegend jüngere Bürger halten mit Witz und Beethovens Neunter dagegen

Unwort „Lügenpresse“

■ Kritik: Das von Anhängern der Pegida-Demonstrationen verwendete Schmähwort „Lügenpresse“ ist zum Unwort des Jahres 2014 gewählt worden. Der Ausdruck diffamiere Medien „pauschal“ und trage damit zur Gefährdung der für die Demokratie so wichtigen Pressefreiheit bei, teilte die Jury der Sprachkritischen Aktion in Darmstadt mit.

■ Jury: Die Jury der Sprachkritischen Aktion bestand aus vier Sprachwissenschaftlern verschiedener Universitäten und zwei Journalisten. Sie wählten aus 733 Vorschlägen aus, die ihnen zugeschickt wurden. Das Unwort des Jahres wird seit 1991 gekürt.

AUS LEIPZIG MICHAEL BARTSCH

„Gegen die Dresdenisierung Leipzigs“ hatten einige junge Leipziger am Waldplatz auf ihr Transparent geschrieben. Schon am Tenor der Aufrufe zum Widerstand gegen „Legida“ war zu spüren, dass man es unbedingt besser machen wollte als die Landeshauptstadt. „Sachsen ist nicht nur Dresden!“, rief denn auch prompt Sachsen Integrationsministerin Petra Köpping (SPD), die bis 2008 Landrätin im Kreis Leipziger Land war.

Dieser Ehrgeiz ist nicht neu unter Sachsens Hauptkonkurrenten. Bürgerliches Leipzig hier, höfisches Dresden dort, lautet vereinfacht der Gegensatz. Auch zu DDR-Zeiten galt die Messestadt wegen des Handels, der Verlage und nicht zuletzt des Westfernsehens als weltoffener. Unter den No-Legida-Demonstranten erinnerte sich auch eine längst pensionierte Sängerin an ihre Dresden-Auftritte. Pathetischer, weniger aufgeklärt habe das Publikum dort gewirkt.

Nun ist der „Dresdner Kehraus“, mit dem seit Jahresanfang Demonstranten symbolisch die Pegida-Sammelplätze säubern, auch eine originelle Idee. Tausende Besen, Schrubber, Klo- und Zahnbürsten werden den Kameras entgegengeschwenkt. Leipzig toppt das noch ein bisschen: Das Uni-Radio „Mephisto“ strahlt Beethovens 9. Sinfonie mit Schillers „Ode an die Freude“ aus, mit der die Legida-Route aus zahlreichen offenen Fenstern beschallt wird. Witzbolde gibt es hier wie dort. Es ist nicht ganz sicher, ob es wirklich „Die Partei“ war, die Legida mit Rufen „Bier sind das Volk“ parodierte und auf einem Plakat „Muselland in Christenhand!“ forderte.

Aus offenen Fenstern wurde Legida mit der „Ode an die Freude“ beschallt

Die Universität gab ihren Studenten vorlesungsfrei, das Schauspiel setzte Abendvorstellungen ab, ja sogar einige Geschäfte schlossen, um die Teilnahme am Sternmarsch des No-Legida-Bündnisses zu ermöglichen. Und Leipzig hängt die Kunststadt Dresden doch ein bisschen ab, wenn auf der Abschlusskundgebung nicht nur ein evangelischer Posaunenchor, sondern auch Gewandhaus-, Universitäts- und andere Chöre vereint auftreten und „Sonne der Gerechtigkeit“ intonieren. Wohltuend in eigener Sache auch, wenn Journalisten einmal nicht das generelle Misstrauen gegen die „Lügenpresse“ begegnet, sondern freimütig geredet wird.

Den heiteren, teils spontan singenden und tanzenden sieben Zügen toleranter, christlicher und überwiegend jüngerer Bürger und Studenten steht in Leipzig allerdings auch eine Legida gegenüber, die deutlich schärfer ist als das Dresdener Original. Ihre 19-Punkte-Agenda verglich Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) schon mit einem NPD-Grundsatzprogramm. Unter anderem finden sich Forderungen wie die nach einer „Beendigung des Kriegsschuldkults und der Generationenhaftung“, nach mehr Volksentscheiden und Direktwahlen von Richtern und Staatsanwälten, mehr Nationalstaatlichkeit in der EU oder einer Überprüfung der Nato-Mitgliedschaft. Mit dem Militaria-Händler Jörg Hoyer verfügt Legida zudem über einen Demagogen, dessen nobler Habitus mit einem weit ausladenden Hut in schroffem Gegensatz zu seinem heiseren Gebrüll stand. Auch er brachte zum Abschluss aber die dritte Strophe des Liedes der Deutschen nicht zu Ende.