: Soundtrack der wilden Jahre
Geschichte betreiben mit Jingo de Lunch und ihrem Album „The Independent Years“
Früher ja alles besser. Diese Meinung gilt ganz besonders für diejenigen, die jung in den letzten Jahren des von der Mauer umschlossenen Westberlin waren. Dort, behauptet die Legende, seien die Menschen besonders aufregend und kreativ, nachgerade revolutionär und ästhetisch voll auf der Höhe der Zeit gewesen. Vor allem was die Musik angeht.
Das ist leider eine üble Lüge. Musikalisch war das späte Westberlin langweilig. Es gab eine ebenso retrospektive wie konservative Sixties-Revival-Szene mit Rüschenhemden und Rickenbacker-Gitarren, es gab ein wenig schlechten Punk, immer noch die Einstürzenden Neubauten und natürlich Die Ärzte – das war’s weitgehend. Leider.
Und dann gab es noch, das muss man zugeben, Jingo de Lunch. Die Band um die kanadische Exilantin Yvonne Ducksworth spielte für viele, die heute Anfang vierzig sind, den Soundtrack zu ihren wilden Jahren. Die dürfen nun in Nostalgie schwelgen, denn das Quintett hat sich in Originalbesetzung wiedervereinigt, um den 20. Jahrestag ihrer Gründung 1987 zu feiern. Dazu erscheint mit „The Independent Years“ eine Art Best-of- Compilation mit Songs von den ersten drei Veröffentlichungen der Kreuzberger Band, bevor sie einen Vertrag bei einer großen Plattenfirma unterschrieb.
Jingo de Lunch verbanden wie niemand sonst damals die Wut des Hardcore-Punk mit einer Sehnsucht nach dem Garagenrock der Sechziger und bauten eine Brücke zum damals gerade musikalisch spannenden Metal. So schufen sie den definitiven Soundtrack für die ausgehenden Achtzigerjahre – nur zusammengehalten von Ducksworth’ einmalig knödeliger Stimme mit enormem Wiedererkennungswert. Anhänger fand die Band vor allem in der linksalternativen bis anarchistischen Szene der Mauerstadt, aber auch unter Bikern oder herzlich normalen Rockfans. Die Hälfte der Auftritte auf Soli-Partys in besetzten Häusern, die man ihnen heute nachsagt, dürften allerdings nicht stattgefunden haben.
Auf „The Independent Years“, zusammengestellt aus dem Debütalbum „Perpetuum Mobile“, der legendären EP „Cursed Earth“ und „Axe To Grind“, lässt sich nun gut die musikalische Entwicklung der Band nachvollziehen. An dem knüppelnden Hardcore-Punk der Anfangstage wurde so lange herumgeschraubt, bis am Ende melodiöser Hardrock steht, der aber seine Wurzeln nicht verleugnet und so das Potenzial zum Mainstream-Erfolg entwickelt. Die logische Folge war, dass Jingo de Lunch den Gang zur Industrie wagten, dort noch drei Alben aufnahmen und sich 1996 nach heftigen internen Streitereien auflösten.
Heute lebt Ducksworth in Phoenix, Arizona, und arbeitet als Kommunikationstechnikerin. Gitarrist Tom Schwoll ist mittlerweile bei den Skeptikern gelandet, Bassist Henning Menke spielt bei der Metal-Band Skew Siskin und bei den Bad Brians, die Songs aus den Siebzigern und Achtzigern covern. Gitarrist Joseph Ehrensberger und Schlagzeuger Steve Hahn, der als Roadie bei den Toten Hosen sein Geld verdient, haben Duck’n’Cover gegründet. Die ersten Wiedervereinigungs-Shows fanden Ende August – natürlich – im White Trash statt, für den nächsten Auftritt ist – was sonst? – das SO 36 gebucht. Die Reunion aber soll nur eine temporäre sein, eine, wie man in Interviews zugibt, nostalgische Veranstaltung, eine Gelegenheit, zurückzublicken und sich zu erinnern an das alte Westberlin. Es war ja schließlich nicht alles schlecht.
THOMAS WINKLER
Jingo de Lunch: „The Independent Years“ (Rookie Records/Cargo) 20. 9. im SO 36, Oranienstraße 190