Vor der Eiszeit

KLASSIK Die Spätwerke Dmitri Schostakowitschs zeugen von Trauer und Resignation, seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ und die 4. Symphonie hingegen noch von atemberaubendem Aufbruch

■ 4. Symphonie, c-moll, Opus 34: Marek Janowski und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Philharmonie, 20. 1, 20 Uhr■ Lady Macbeth von Mzensk: Inszenierung: Ole Anders Tandberg, Musikalische Leitung: Donald Runnicles, in den Hauptrollen: Evelyn Herlitzius (Katerina Ismailowa), John Tomlinson (Boris Timofejewitsch Ismailow), Maxim Aksenov (Sergej), Deutsche Oper, Bismarckstraße 35, Premiere am 25. 1., 18 Uhr, weitere Aufführungen: 29. und 31. 1. sowie am 5. und 14. 1., jeweils 19.30 Uhr

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Der Zeitplan ist eingehalten, und auch die Kosten blieben im Rahmen: Die Bühne ist repariert, die Deutsche Oper spielt wieder im Großen Saal an der Bismarckstraße, und am Sonntag findet dort nun auch ihre erste große Premiere der Saison statt. Wenn der Vorhang hochgeht, wird zunächst Evelyn Herlitzius auf der Bühne stehen, allein, nur vom Orchester unter Donald Runnicles begleitet. Sie wird Russisch singen, aber wenn der Regisseur Ole Anders Tandberg aus Norwegen seine Sache gut gemacht hat, wird man sie schon verstehen: Die Kaufmannsgattin Katerina Ismailowa will Sex.

Um Sex geht es mindestens unter anderem in jeder Oper, aber in keiner so ausschließlich und brutal wie in dieser einzigen von Dmitri Schostakowitsch, die vollständig erhalten ist. Sie heißt „Lady Macbeth von Mzensk“, beruht auf einer Erzählung des russischen Schriftstellers Nikolai Leskow aus dem Jahr 1865 und ist 1934 zuerst im damaligen Leningrad und dann in Moskau uraufgeführt worden.

Das Publikum war begeistert. Schostakowitschs Musik klingt zupackend modern, überall ist der Geist der russischen Avantgarde zu spüren. Mit Elementen des Films und der Collage wird Leskows Erzählung aufgelöst in eine hart geschnittene Folge grotesker, mitunter surrealistischer Szenen. Es geht nie um Einfühlung und Mitleiden. Kühl und klar zeichnen stattdessen ein enorm kontrastreiches Orchester und expressive Gesangslinien die seelischen Zustände und Motive der Personen wie in einem Vergrößerungsglas.

Sie kriegt ihren Sex, die schöne Katerina vom Dorfe. Sie holt sich den Oberrammler unter den Angestellten ihres Mannes ins Bett, der soeben noch die Köchin in der Mülltone vor dem grölenden Chor der Arbeiter vergewaltigt hat. Danach muss sie den Schwiegervater mit Rattengift um die Ecke bringen, weil der ihren neuen Liebhaber erwischt und verprügelt. Viel zu früh kehrt dann auch noch der Gatte von seiner Dienstreise nach Hause zurück. Er wird sofort umgebracht und im Keller eingelagert.

Natürlich endet das Ganze im Arbeitslager und mit dem Selbstmord der Heldin, aber endlich einmal stand eine Frau auf der Bühne, die offen und selbstbewusst ihr Recht auf sexuelle Lust einfordert. Zwei Jahre lang ging alles gut, die Kritik war sich einig über Schostakowitschs Meisterschaft. Über 200-mal wurde seine Oper gespielt. Aber dann kam am 26. Januar 1936 Stalin selbst ins Bolschoi-Theater in Begleitung von Molotow und anderen. Sie saßen in einer gepanzerten Loge, unsichtbar für das Publikum. Am 28. Januar erschien in der Prawda ein anonymer Artikel mit dem Titel „Chaos statt Musik“.

Sämtliche Aufführungen der „Lady Macbeth“ wurden gestrichen. Die Anklage der Prawda lautete auf „Formalismus“ und konnte den Tod bedeuten. Schostakowitsch schrieb trotzdem seine angefangene vierten Symphonie zu Ende. Die Uraufführung war für den 30. Dezember 1936 geplant. Aber mitten in den Proben mit den Sankt Petersburger Symphonikern zog er sein Stück zurück. Angeblich war er mit dem Schlusssatz unzufrieden, dann sollte plötzlich der Dirigent unfähig sein.

Nichts davon traf zu. Schostakowitsch hatte Angst. Denn natürlich hatte er in seiner neuen Symphonie die musikalische Sprache seiner Erfolgsoper weiterentwickelt und womöglich radikalisiert. Aber nun war auch für ihn, der in seiner zweiten und dritten Symphonie die Oktoberrevolution von 1917 noch so sehr gefeiert hatte, dass man ihm im Westen sowjetische Propaganda vorwarf, die Eiszeit des Stalinismus angebrochen.

Über 200-mal wurde seine Oper gespielt. Aber dann kam am 26. Januar 1936 Stalin ins Bolschoi-Theater

Erst im Dezember 1961 konnte seine 4. Symphonie in Moskau uraufgeführt werden. Am Dienstag, 20. 1., ist sie in der Philharmonie zu hören, gespielt vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski. Es lohnt sich sehr hinzugehen. Es gibt Neues zu entdecken. Schostakowitsch hat sich vor allem mit seinen Spätwerken, den großen Symphonien, Streichquartetten und Liedern einen festen Platz in den Konzertsälen der Welt erobert. Es sind allesamt erschütternde Werke der Trauer, Bitterkeit und Resignation. Schostakowitsch hatte sich mit Stalins Terror arrangiert und war darüber zerbrochen.

Ganz anders die 4. Symphonie. Sie ist ein atemberaubender Aufbruch zu neuen Ufern, genießt in tausend Facetten die Freiheit, mit allen Konventionen zu brechen, so rücksichtslos wie kurz zuvor „Lady Macbeth“ die ganzen sentimental verbrämten Tabus der Sexualität abgeräumt hatte.

In Russland schien eine neue Zeit der Wahrheit und Freiheit angebrochen zu sein. Es war zwar nur ein Traum von Intellektuellen und Künstlern, aber beim frühen Schostakowitsch ist er immer noch zu hören und klingt so gut, dass man ihn nicht vergessen kann.